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den Glauben an Gott nicht zu verlieren. Die Mutter hielt streng an ihm fest, der Vater verharrte in äußer­licher Gleichgültigkeit. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir Kinder immer skeptischer wurden. Älter und singfähig geworden, zwang uns strengstes Schulgebot jeden Sonntag in die Kirche, aber die Reden der Män­ner, die droben auf der Kanzel im Namen des Zimmer­mannssohnes standen, ließen wenig von dem Geist sei­ner Bergpredigt spüren. Und aus welcher Fülle des Le­bendigen hätten sie schöpfen, ihre Zungen befeuern und damit die Herzen der Armen im Sturme erobern können! Aber durften sie das überhaupt? Waren nicht Thron und Altar, waren nicht Staat und Kirche Zweck­gemeinschaften geworden, in denen alles echt religiöse Leben ersterben mußte? Marx drückt es derb, aber sachlich nicht unrichtig aus, wenn er sagt, der Kapita­ lismus habe alles, auch die Geistlichen, zu seinen be­zahlten Lohndienern erniedrigt. Das Kinderherz konnte noch nicht wissen, daß echte Religion eine ewige Quelle der Seele ist und daß sie, wie alle Werke gött­licher Herkunft, ganz zeitlos und im letzten unab­hängig ist von ihren jeweiligen Repräsentanten und den äußeren Einrichtungen, die ihr dienen sollen. Da­mals war mehr Religion außerhalb als innerhalb der Kirche anzutreffen.

Zu jener Zeit las ich viel, allerdings auch wahllos. Denn ich war auf das angewiesen, was ich kostenlos von irgendwem oder in der Leihbibliothek, die ein kleiner Geschäftsmann am Orte eröffnet hatte, gegen ein paar Pfennige in die Hand bekam. Zu eigenem Bücher­kauf reichten die Mittel des Vaters nie. Der seufzte schon, wenn ich ihm alljährlich nach der Versetzung die Liste der neuen Lehrbücher vorlegte, obwohl er da­für im allgemeinen großes Verständnis hatte. Ich be­

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