der letzte Eintrag in das Lohnbuch: für 297/10 Arbeits­tage 59.40 Mark. Man wollte damals den gelähmten Mann auf dem Schubkarren nach Hause fahren. Da­gegen bäumte sich aber das Ehrgefühl der Kollegen auf, die eine Kutsche bestellten und aus ihrer Tasche bezahlten. Ein Kranz, von einem Angestellten ohne ein Wort der Teilnahme oder der Würdigung am Grabe niedergelegt, war die letzte Leistung des Unternehmens, dem der Vater vierzig Jahre lang in unbestechlicher Treue gedient hatte. So etwas fiel jedoch gar nicht wei­ter auf. Kaum hundert Jahre nach dem ergreifenden Hymnus Goethes auf den Tod des Tischlers Mieding in Weimar waren die Herzen im Kapitalismus schon so verhärtet worden. Die Bitterkeit dieses Erlebnisses habe ich in meinem Leben nie ganz verwunden.

Wenn die ganze Familie sich einmal an einem Tisch hätte versammeln können, wären es neun Köpfe ge­wesen, doch waren die älteren Geschwister längst aus dem Hause, als ich, ein verspäteter Nachzügler, zur Welt kam. Aber auch fünf bis sechs Köpfe, die sich zu­letzt auf vier verringerten, waren mit 50 bis 60 Mark im Monat nicht zu ernähren. Da mußte die Mutter zu­erst mit Fabrikarbeit, später als Aufwarte- und Wasch­frau und als Krankenpflegerin dazu verdienen. Oft ar­beitete sie Tag und Nacht Jahre hindurch, bis die Hände zitterten und die Füße schwach wurden. Und auch so mußten sogar die Kinder für den Erwerb mit eingespannt werden. Zeitungen und Backwaren wur­den ausgetragen und Holz und Beeren in den nahen Wäldern gesammelt, nur um wenigstens das Brot jeden Tag in genauest bemessener Zuteilung für den Einzel­nen auf den Tisch zu bringen. Da half kein Vaterunser allein mit der Bitte ums tägliche Brot. Es war schwer,

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