kam die besten und neuesten Exemplare, auch wenn er sich das Geld dafür am Munde absparen mußte. Aber am Abend griff ich gierig zuerst nach der Zeitung. Für mich war Bismarck schon ein fester Begriff, und ich kannte auch die Namen seiner Nachfolger Hohen- lohe und Bülow. Ich las die Reichstagsberichte, die selbst in ihrer stark gekürzten Fassung noch eiwas von dem mitreißenden Glanz der Reden eines August Be- bel durchschimmern ließen. Auch hinter die Bedeu- tung der Namen Eugen Richter , Windhorst, Basser- mann, Kanitz und Kardorff suchte ich zu kommen. Niemand unterwies mich, aber ich lauschte gespannt allen Gesprächen, die politischen Charakter trugen. Der Vater sang Lieder auf den Tod des Volksmannes Robert Blum und erzählte viel von der Revolution von 1848, die er als Trommlerjunge bei der Bürgerwehr in Weimar miterlebt hatte. Die schon erwachsenen Brü- der bekamen Fühlung mit den jungen Gewerkschaften und erzählten zu Hause, was sie in den Versammlun- gen gehört hatten. Die moderne Arbeiterbewegung, schon vor 1878 ein Faktor, den Bismarck fürchtete, ent- wickelte sich rasch, nachdem erst einmal die Fesseln des Sozialistengesetzes gefallen waren. Nun stand der Arbeiter nicht mehr allein, da er in seinen Organisa- tionen einen Rückhalt bekam, dessen Stärke von Jahr zu Jahr wuchs. In den Parlamenten riefen die sozial- demokratischen Abgeordneten seine Not in alle Welt und forderten Rechte für ihn.

Das alles hatte in meinem jugendlichen Gemüt eine ungeheure Wirkung. Der Boden war durch die sozia- len Verhältnisse wohl vorbereitet. Die ganz anderen Tendenzen von Schule, Kirche und Zeitung blieben demgegenüber wirkungslos. Langsam begannen sich in meinem jugendlichen Kopfe die politischen Begriffe

14

| | | _