M eine Freunde, wenn ich heute an dieser Stelle zu Ihnen spreche, so tue ich dies zunächst nicht als Geistlicher.. Noch weniger als ein Anklagender und Verurteilender, der Luft machen möchte seinem Grimm über Allzuvieles, das in den letzten zwölf Jahren Menschen unseres Vaterlandes von Menschen angetan wurde. Genug ist des Grimmes in Millionen Herzen unserer Brüder und Schwestern. Meine Absicht ist sehr schlicht, daß wir einander helfen. Einander helfen, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und miteinander zu bedenken, wie wir vielleicht mit ihnen fertig werden können in der Zukunft, wenn der Gnade dazu gibt, ohne den die besten Gedanken der Menschen eine Nichtigkeit sind. Denn ,, des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein gibt, daß er fortgehe".
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Und als ein Mensch, der nicht nur vierzig Monate hinter dem elektrischen Stacheldraht der Gestapo versucht hat sein Leben zu retten, sondern sich über das Unglück klar zu werden, beanspruche ich allerdings wie jeder geistig aufrichtige Teilnehmer meines Weges es beanspruchen wird von Ihnen gehört zu werden zu diesem Thema. Denn in Dachau Gefangener, von der Mehrheit des deutschen Volkes Verlassener und Vergessener sein zu müssen, war inmitten der seelischen Qual, die solches Schicksal für Menschen mit Seele, Geist und Gemüt bedeuten mußte, eine unerhörte Gnade. Die Gnade einer Schärfung des Gewissens, das so überwältigend, so schmerzhaft und dringlich in uns zu reden begann, daß man diese Stimme nur ertragen konnte und bis zur Stunde erträgt mit der Erklärung: es soll durch uns reden für andere! Für andere, die nicht mehr reden können oder nicht reden wollen. Für die leiblich oder geistig Toten unseres Volkes. Dieses stellvertretende Gewissen, das nach dem Wort eines aufrechten deutschen Dichters der letzten
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