Ich habe Dir bisher verschwiegen, daß unser lieber Atti schon vor etwa einem Monat zum Tode verurteilt wurde. Er lebt, während ich dies schreibe, schon sicher- lich nicht mehr. Ich habe also keine Illusionen. In etwa vier Wochen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Das neue Jahr, das auf jeden Fall und unwiderruflich den Beginn der neuen Zeit, den Anfang eines neuen Abschnitts der Geschichte der Menschheit bringen wird, werde ich nicht mehr erleben. Ich sterbe am Ende der alten Zeit, damit die anderen die neue be- ginnen können. Bin ich deshalb traurig? Nein! Ich bin zufrieden, daß mir das Schicksal die Möglichkeit gab, bis dicht an die Schwelle der Zeitenwende zu gelangen und mich kurz vor meinem Tode einen Blick hinüber tun ließ in die eben beginnende neue Zeit. Es werden für die, die diesen Krieg überstehen, noch lange Jahre voll bitterer Mühen, Not und Sorgen kommen. Doch wird sich dies alles leichter ertragen lassen, weil es im Dienste des Neuen, des Positiven geschieht, weil es die Zukunft, das Glück der Menschheit verbürgt. Wie ich schon sagte, mein. Herz schlägt nicht schneller, wenn ich daran denke, daß ich in wenigen Tagen sterben soll. Doch ich will nicht verschweigen, unangenehm ist mir der Gedanke an die Art, in der das vor sich gehen wird. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich Erhängen vor- ziehen. Ich weiß, daß man auf diese Weise sehr schnell und schmerzlos stirbt, unbemerkt, so wie der Schlaf eintritt. Der Schlaf, den die Alten den kleinen Bruder des Todes nannten.;
Ich möchte immer weiter schreiben, ohne Unterlaß meine Seele vor Dir ausbreiten. Denn solange ich Dir schreibe, ist mir, als seist Du bei mir und schautest mich liebevoll an. Doch es drängt die Zeit. Und so will ich zum Schluß Deine Worte benutzen:„Über Raum und Zeit‘ leb wohl, mein Evchenl
Dein Hermann
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