Mein liebes Mädchen!
Nur wenige Tage trennen mich noch von dem Urteilsspruch, nicht aber von der Entscheidung. Diese fiel am Tage meiner Verhaftung. Als ich in Potsdam ,, vernommen" worden war, wußte ich, daß das Todesurteil nur noch durch besondere Ereignisse abgewendet werden konnte. Meine Hoffnung auf solche war gering, und so stellte ich mich von Anfang an auf den Tod ein. Nun steht er unmittelbar bevor.
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Es ist ein sehr eigentümliches Gefühl, in einer engen Zelle zu sitzen, getrennt von allem, was einem lieb und teuer ist auf dieser Erde, und zu wissen: Nie wieder wird es werden, wie es war. Hinter allen Gedanken, die sich mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen, steht das unerbittliche ,, Nie wieder!" Ich sah, wie die Sonne täglich langsam sank und wußte, nie wieder werde ich erleben, daß sie täglich höher steigt. Als die Weinblätter am Kerkerfenster sich zu färben begannen zuerst ganz zart, kaum merkbar, dann täglich mehr und mehr, bis sie schließlich in leuchtendem Rot erstrahlten, um zu verblassen und abzufallen erschienen sie mir als ein Symbol meiner Lage. So unerbittlich und unaufhaltsam wie dieser Prozeß des langsamen Absterbens, so unerbittlich verrinnt auch meine Zeit. Noch nie habe ich Blätter in solcher Schönheit sterben sehen wie dieses Mal, da es zugleich das letztemal war, daß meine Augen solches sahen.
Sie sind tot, die Blätter vor meinem Fenster, das letzte ist abgefallen, und auch meine Stunde ist nun gekommen. Freilich, die Blätter werden wiederkehren. Schon in wenigen Wochen beginnen sie zu rüsten, um im kommenden Frühjahr in strahlender Schöne in die Sonne zu lachen. Alles wird wieder sein, wie es war. Nur ich werde nicht mehr sein. ,, Nie wieder!"
Bin ich deshalb verzweifelt? War ich es in den letzten Wochen? Nein! In dem Maße, in dem die Überzeugung
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