Stempel". Wir wurden beim Grenztor nicht durchgelassen. Bubi und ich wurden auf den Platz der Opfer geführt und waren überzeugt, nicht lebend durchzukommen. Viele wurden an Ort und Stelle erschossen. Wir flüchteten, und es gelang uns zu entkommen. Ich kam glücklich ins Büro. Dort saß ich nun, und da draußen warteten Tausende auf den Tod. Ach, wie soll ich Euch das schildern? Nachmittags erfuhr ich, daß Mama und Papa auf dem Platz gesehen wurden. Ich mußte weiterarbeiten, konnte nicht helfen. Da habe ich geglaubt, verrückt zu werden. Aber man wird nicht verrückt. Dann hörte ich, daß man nichtarbeitende Frauen also bloß Hausfrauen nicht herausbekommen konnte. Sollte ich nun trauern und weinen, daß ich meine Mutter verloren oder mich freuen, daß ich noch den geretteten Vater hatte? Ich wußte es nicht. Kann man das noch begreifen? Kann man das noch verstehen? Sollten nicht normalerweise Hirn und Herz platzen?
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Nun lebten wir ohne Mutter weiter. Die treue, gute Seele, das gute Mutterherz!...
Inzwischen kamen die alltäglichen Sorgen und der weitere schwere Kampf ums blöde, ums sinnlos gewordene Dasein. Man mußte wieder übersiedeln, das Ghetto wurde zum anderen Male verkleinert. Denn die Wohnungen der Ermordeten waren doch nun frei geworden. Und man lebte weiter.
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Am 5. November war Sonntag. Ganz unverhofft, um 11 Uhr vormittags, wurde das Ghetto umzingelt und der Tanz begann aufs neue. Ich hatte damals besonderes ,, Glück". Ohne von einer Aktion etwas zu ahnen, bin ich zehn Minuten, bevor das sage und schreibe Ghetto umzingelt wurde, hinausgegangen. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Verhältnisse. Man wird so abgestumpft. Wenn man von den Allernächsten jemand verlor, reagierte man kaum mehr. Man weinte nicht, man war kein Mensch mehr, ganz aus Stein, ganz ohne Gefühl Keine Nachricht machte Eindruck. Man ging sogar schon ganz ruhig zum Sterben. Die Leute auf dem Platz waren gleichgültig und ruhig.
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