Das Chaos bricht über uns herein. Mit dem Vorrücken der Alliierten in Ost und West schmilzt der deutsche ,, Lebensraum" von Woche zu Woche zusammen. Gefängnisse und Lager werden evakuiert und ins Landesinnere verbracht.
Hameln ist eine Art Umschlaghafen. Transporte aus dem Rheinland rollen an. Sie bringen eine Flut von Flöhen und Läusen mit, die sich mit Windeseile über das ganze Haus ergießen. Platz ist nicht mehr da. Es fehlt an Kleidung, an Lebensmitteln, es fehlt an allem. Von Ordnung und Menschlichkeit ist nun keine Rede mehr. Die Dinge wachsen uns über den Kopf: Die letzten Monate in Hameln werden schrecklich sein.
So rückt mein Abgangstag heran.
,, Ich beneide dich", sagt Walter am Vorabend. ,, Jetzt wirst du nach Sachsenhausen kommen und da die Elite aller Nazigegner antreffen. Leute, gegen die wir hier nur kleine Provinzpinscher sind. Dort weht ein internationaler Wind! Du wirst nun noch vor Toresschluß die letzten Semester einer wirklichen politischen Hochschule absolvieren!"
Ich muß euch noch einmal bitten, Freunde: Schüttelt nicht eure Häupter! Haltet uns nicht für schwärmerische oder verzückte Wiedertäufer oder fanatische Gläubige. Nichts wäre verkehrter als das. Wir waren nur eins: Realisten. Und das hat uns vielleicht davor bewahrt, vor der Zeit abzuwracken...
Wir malen uns mit umständlicher Breite aus, wie sie in den Lägern sicherlich große revolutionäre Organisationen besitzen, in denen die Besten der Besten beweisen, daß sie die Lehren aus den langen Jahren der Illegalität gezogen haben.
Es klopft. Dreimal kurz
spricht England".
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einmal lang. Aha ,,, Hier
,, Come in, Sir", ruft Walter. Ein Schlüssel klirrt, unser Freund Heinrich, der Ziegelbäcker, besucht uns, um Abschied zu nehmen.
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