DER PROZESS
Ich empfinde es als ein Glück, daß am darauffolgenden Tage der Gefängnisgeistliche einen Gottesdienst für alle Gefangenen hält. Obwohl aus einem streng christlichen Hause stammend, hatte ich nie vor der Notwendigkeit gestanden, mich mit den Glaubensfragen näher zu be- fassen. Der Gottesbegriff war für mich so feststehend, daß schon ein Zweifel an der Existenz Gottes eine unwil- lige Ablehnung gefunden hätte. Auf dem Lande aufge- wachsen, war mir das Werden und Vergehen in der Natur ein so selbstverständlicher Vorgang, daß ich mich mit Sinn und Zweck des Lebens nie näher zu befassen gezwungen sah. Gewiß, die Wechselfälle des Krieges hatten mich öfters in Lagen gebracht, wo ich dem Tode ins Auge sehen mußte. Aber auch das erschien mir für einen Soldaten nicht als etwas Besonderes.
Jetzt ist doch etwas in mein Leben getreten, das mir den Vorgang des Lebens und Todes in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Der Pfarrer besitzt eine geheimnisvolle Kraft, die ihn Leid und Not täglich schauen und erleben läßt und die ihn trotzdem über alles hinaushebt, so daß er den Kameraden helfen kann, die Todesnot zu über- winden.
Die Zahl der Kameraden, deren Schicksal ich hier täglich und stündlich miterlebe, läßt sich nicht angeben. Aber ich lebe diese Zeit in viel zu starker Spannung wegen meines eigenen Geschickes. Ich habe nicht die Fähigkeit, alles das aufzufassen und menschlich zu werten, was sich in dieser und der folgenden Zeit an menschlichen Schick- salen in meiner unmittelbaren Nähe vollzieht. In den
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