-

-

Was wird nun geschehen? Der Verlust des Stubenältestenpostens schien mir ein großes Glück. Aber eine Meldung? Mir war jämmerlich zu Mute. Am nächsten Vormittag schon wurde ich nach vorn" ge­rufen. Da stand ich im Korridor vor dem Büro der Oberaufseherin Langefeld. Aus der Tür trat eine junge, blonde Bibelforscherin, mit einem hübschen, aber hochmütig anmaßenden Gesicht. Das war Marianne Korn, die Sekretärin der Oberaufseherin. Buber, Sie sollen rein­kommen!" Meldend stand ich vor dem Schreibtisch. Die Langefeld sah nicht auf, las, blickte dann zum Fenster hinaus, und nach einer ganzen Reihe merkwürdig nervöser Bewegungen mit dem Kopf, so als schüttle sie sich die Haare aus dem Gesicht, wandte sie sich an mich Ja." und fragte: ,, Sie sind Stubenälteste bei den Asozialen?" , Würden Sie sich zutrauen, Blockälteste zu werden?" Das kam so unerwartet, daß ich irgend etwas stotterte, wie ,, Ich denke nicht." ,, Sie werden also Blockälteste auf Block 3 bei den Bibelforschern." Ich schwieg. ,, Sie müssen wissen, daß Block 3 der Besichtigungsblock ist. Da haben Sie besonders auf Ordnung zu achten. Nehmen Sie ihre Sachen und gehen Sie gleich auf Block 3!"

29

19. DIE BIBELFORSCHER

-

-

-

Mit sehr gemischten Gefühlen betrat ich zur Mittagszeit den Be­sichtigungsblock 3, der auf der rechten Seite der Lagerstraße dem Block der ,, alten" Politischen, Nr. 1, gegenüber lag. Tiefe Stille herrschte. Es roch nach Scheuerpulver, Desinfektionsmitteln und Kohlsuppe. 270 Frauen aßen zu Mittag, und man hörte. kaum ein Wort. Mir war so unbehaglich zu Mute, daß ich nur zögernd die Tür zum Tagesraum der A- Seite öffnete. Sofort erhob sich eine große Blonde und forderte mich auf, Platz zu nehmen, nahm mir die Aluminiumschüssel aus der Hand und füllte sie bis zum Rand mit Weißkohlgemüse. Ich wußte nicht recht, muß ich nun eine Ansprache halten, wegen der erwartungsvollen Stille? Muß ich ihnen erklären, wer ich sei? Soll ich ihnen sagen, daß sie an­fangen möchten zu reden, zu toben und zu schreien, wie ich das bisher gewohnt war, damit ich endlich wieder ein normales Gesicht machen könne. Ich sagte aber gar nichts, sondern setzte mich vor die Suppenschüssel. Ergebene, lächelnde Gesichter, wohin das Auge blickte; ihre Haare waren straff nach hinten zu einem festen Knoten gebunden, alles saß wie am Schnürchen. Die meisten schienen Bauersfrauen zu sein mit braun­gebrannten, hageren, von Wind und Sonne verwitterten Gesichtern. Unter jeder Eßschüssel lag auf der glänzenden Tischplatte eine runde Pappunterlage, denn sonst hätte der blanke Tisch einen ,, Rand" be­kommen. Der Fußboden im Korridor und zwischen den Tischen war mit großen Bogen Packpapier belegt, damit ihn die von der Arbeit Kom­menden nicht beschmutzten. An der Blocktür lehnten mehrere Handfeger,

199