Das erste, was ich damals in Südamerika gelernt hatte, war, daß ich persönlich in diesem Kontinent nicht stimmte, nicht aufging. Ich war Europäer , meine Gefühle, meine Anschauungen waren europäische. Es waren einem Dinge vorgesetzt worden, die man nächtelang debattiert hatte und die man hier nicht mehr wiedererkannte, sei es Sche­ler, die Meißner Formel, lineare Musik, Newman, Bevölke­rungsdruck oder Industrieprobleme. Ich war in Europa gewohnt, ständig andere Menschen ringsum in der Nähe zu wissen. Man berührte sich stets an den Schultern, man rieb sich aneinander in einem wortreichen, überhitzten Wirbel, man lebte als Teil einer genauen Ordnung. Tau­send Jahre steckten einem im Blut.

Kant, Hegel und Aristoteles spukten uns zwischen den Ohren herum, Leibnizens Nomaden hatten unsere Gang­lien beunruhigt, die grausamen Päpste hatten wir ver­flucht, die Skagerrakschlacht hatte unseren Blutschlag gepeitscht, Pindars Rhythmen schrien wir höhnisch in den Südwind. Augustin war für uns gestorben. Die Septua­ginta, Normannenzüge, Hengist und Horsa, Kalevala , Tho­mas Münzer im Käfig, die nackten Hexenfolterungen, de­ren verbranntes Fleisch über unsere Heimatgaue rauchte, Kriege, Verrat und Morde, fahnenumflatterte Triumphe, Dichter als tragische Fanale über blutgetränkter Scholle, Lenin und Whitman, das alles hatte unser Gehirn bewegt. Wir befanden uns mitten im kältesten und raffiniertesten Kontinent, der von Traditionen übervölkert war. Es war eng dort oben in Europa und überfüllt und überaus eilig. Weisenborn, Memorial 9

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