nächsten Tage von Waldinger selbst nicht erfahren. Erwin erklärte ihm, daß er die Mutter besuchen wolle. ,, Na, heute sollte sie noch ihre Ruhe haben", entschied der Arzt onkelhaft freundlich und voller Autorität. ,, Wie wär's also, wenn Sie morgen kämen?"
Gehorsam legte Erwin den Hörer auf, aber er empörte sich dann doch darüber, daß er sich von Waldinger ,, so hatte abfertigen" lassen. Mehrfach während der Morgenstunden in der Bank dachte er daran, sich vom Vorsteher seiner Abteilung Urlaub zu erbitten. Er wollte trotz Waldingers Anordnung in die Klinik fahren. Er tat es dann doch nicht, und auch als er am Nachmittag frei über seine Zeit verfügen konnte, blieb er zu Hause und las.
Am Nachmittag des nächsten Tages machte er sich mit innerem Zögern auf den Weg zur Klinik. Er hatte schlechte Träume gehabt und fühlte sich von bangen Erwartungen belastet. Dabei fand er die Mutter dem Anschein nach wohlauf. Den Oberkörper gegen einen weißen Wall von Kissen gelehnt, lächelte sie ihm zu. Ihre Augen, tiefer eingebettet zwischen Stirnbogen und Backenknochen als gewöhnlich, saugten sich an ihm mit zehrendem Blicke fest, dem er nicht entweichen konnte.
Unbeholfen formte Erwins Mund die abgebrauchten, verlegenen und scheuen Worte, mit denen der Gesunde herkömmlicherweise sein Befremden, ja sein Losgelöstsein von dem geliebten Kranken zu verbergen trachtet. Heimlich blickte er dann auf die Uhr. ,, Zehn Minuten nur", hatte die Schwester gesagt, und Erwin fand, daß er die Zeit schon überschritten hatte. Doch wollte ihn die Mutter nicht gehen lassen. Dunkler färbten sich die blauen Schatten in ihrem Gesicht.
,, Bist du müde?" fragte Erwin und wäre nun, da er gehen mußte, nur allzugern geblieben.
Er kam jeden Tag nach Schluß seiner Arbeitsstunden, nahm
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