Viele Freundlichkeiten in der Oeffentlichkeit und noch viel mehr im geheimen werden uns erwiesen, Aeußerungen der Verachtung und des Hasses uns gegenüber sind selten. Und ich glaube, gerade diese Reaktion hat eine neue, sehr unangenehme Verfügung verursacht: Kein Jude darf mehr seinen Wohnsitz( z. B. zu einem kurzen Ausflug am Sonntag!) verlassen, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist verboten, nur wer zu seiner Arbeitsstätte einen mehr als sieben Kilometer langen Hin- und ebenso langen Rückweg hat, darf mit der Straßenbahn fahren. Das ist Reichsgesetz. Doch was kümmern sich der Münchner Gauleiter und sein Stellvertreter um Reichsgesetze?! Die Münchner Juden dürfen auch bei noch so langem Arbeitsweg keine Straßenbahn benutzen. Inzwischen sind alle Männer bis zu fünfundsiebzig, alle Frauen bis zu siebzig Jahren zur Fabrikarbeit herangezogen worden. Nur wer dazu völlig unfähig ist, wurde befreit und für die Arbeit in einem unserer Lager eingesetzt. Denn auch die Altersheime sind in der Auflösung begriffen. Der größte Teil der Arbeitenden hat lange Wege, oft solche von zwei Stunden hin und zurück. Die Betriebe, in denen unsere Leute eingestellt sind, haben beim Stellvertreter des Gauleiters interveniert, ihm vorgestellt, daß die Arbeitsleistungen zurückgehen müßten, wenn die Menschen, schon vom Wege erschöpft, die Arbeit beginnen; es hat nichts genützt. Endlich ist das Arbeitsamt auf einen Ausweg verfallen: die Eisenbahn! Zwar gibt es keine regelrechte Stadtbahn, aber doch eine Reihe kleinerer oder größerer Bahnhöfe in und an der Peripherie der Stadt, von wo aus mit kürzeren Fußmärschen der betreffende Arbeitsplatz erreicht werden kann. Jeder in solchem Betrieb schaffende Jude erhält einen Fahrberechtigungsschein, vom Arbeitsamt ausgefertigt, von dem Polizeirevier, zu dem seine Wohnung gehört, unterschrieben und gestempelt. Ich habe Dir diese Angelegenheit nur deshalb so genau geschildert, um Dir zu zeigen, was heute ein ,, Reichsgesetz" ist ein Stück Papier , das jeder Parteigewaltige nach Belieben fortblasen kann.
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