Der Mensch weist zwar die gleichen Merkmale auf wie die anderen Lebewesen, und auch er ordnet alles der Befriedigung seiner Bedürfnisse unter, aber gleichzeitig beeinflußt ihn auch ein Bedürfnis, das ihm allein eigen ist und das wie ein Damm dem stürmischsten Lebenstrieb seiner Natur entgegensteht. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen hat der Mensch nämlich den Drang nach Wahrheit, nach Güte und Gerechtigkeit. Diese geistigen Qualitäten sind ihm im Umgang mit seinen Artgenossen ein Lebensbedürfnis. Er ist nicht in der Lage, diese geistigen Werte als Werte zu leugnen. Und selbst die Menschen, die auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ausgehen, ohne sich dabei an Wahrheit, Güte, und Gerechtigkeit zu halten, selbst diese Leute fühlen sich veranlaßt, bei den anderen alles zu miẞbilligen, was diesen Forderungen nach Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit zuwiderläuft. Niemand bezeichnet eine offensichtliche Lüge als Wahrheit, eine offensichtliche Grausamkeit als Güte, ein offensichtliches Unrecht als Recht.
So groß auch die animalischen Bedürfnisse des Menschen sein mögen, so stark sie auch von dem menschlichen Gefühl und Lebenswillen Besitz ergriffen haben und so sehr sie auch die geistigen Ansprüche des Menschen überdecken, die geistigen Bedürfnisse bleiben trotzdem bestehen, wenn nicht bei allen Einzelwesen, so doch bei der Gattung und vor allem zu allen Zeiten und unter allen Völkern in besonders starkem Maße bei einigen Einzelnen. Bei ihnen wirken sie dominierend und gelten als die einzigen Bedürfnisse, deren Befriedigung das Leben überhaupt erst lebenswert macht.
Die Menschen sind sich dieser Tatsache bewußt. Sie spüren ihre Bedeutung so deutlich, daß sie ohne es zu wollen im Verlauf der Geschichte immer den Mitmenschen die höchste Bewunderung entgegengebracht haben, die am stärksten bei der Verkündung und Durchsetzung des Verlangens nach Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit mitgewirkt haben, die nun einmal die wichtigsten menschlichen Bedürfnisse sind. Das ist unbedingt der tiefere Grund für die weltweite Achtung, die der Gestalt Christi selbst von denen entgegengebracht wird, die nicht an die göttliche Sendung des Erlösers glauben, der sein Leben für das Bekenntnis zu Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit dahingab und deshalb von allen geschmäht und verachtet wurde, die zu seiner Zeit über Macht und Ansehen verfügten.
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