Hoch über allem anderen in der Welt und trotz allem anderen in der Welt setzt sich der Drang nach Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit in der menschlichen Natur durch. Und die Menschen wissen sehr wohl, daß die Befriedigung dieses Dranges oder wenigstens das Streben danach das Höchste ist, was es auf Erden geben kann.
Der Nationalsozialismus leugnete diese Tatsache, die für das menschliche Wesen und für die Ordnung des Lebens im Universum bestimmend ist. Er leugnete diese Tatsache aus Prinzip, weil er in dem Menschen nur das Tier sehen wollte. Und er setzte sich auch praktisch darüber hinweg, weil er es sich zutraute, Menschen auf die gleiche Weise zu dressieren wie Haustiere.
Aber einige Gefangene haben auf heldenhafte Weise trotz der Ableugnung durch den Nationalsozialismus Zeugnis für die Größe und Würde der menschlichen Natur abgelegt. Die Gestalten von einigen dieser Kronzeugen für den Vorrang von Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit gegenüber allen animalischen Trieben des Menschen will ich hier kurz skizzieren.
Ernst Raddatz war ,, Bibelforscher". In Neuengamme gab es einige Hundert Bekenner dieser neuartigen christlichen Religionsauffassung, deren Wiege in Amerika stand, die überwiegende Mehrheit von ihnen kam aus Deutschland selbst, ein paar wenige wurden später aus Holland und Belgien eingeliefert. Sie mußten ein purpurrotes Dreieck auf der Brust tragen und waren in den Jahren 1941 und 1942 abseits von den anderen Häftlingen zusammen mit den Juden, die einen gelbroten Davidsstern trugen, in einer besonderen Baracke untergebracht. Mit den Juden bildeten sie insofern eine verwandte Gruppe, weil sie nicht auf Grund von persönlichen Handlungen und persönlicher Gesinnung wie die Berufsverbrecher und die politischen Häftlinge als Feinde und versteckte Gegner der Sicherheit des Staates galten, sondern als Glieder der Gemeinschaft, zu der sie gehörten. Wenn man die Juden als Feinde ansah, weil sie rassisch, also körperlich zu einer verhaßten Kaste gehörten, dann wurden die Bibelforscher in die gleiche Kategorie eingereiht, weil sie in geistiger Hinsicht zu einer verachteten und verfemten Gemeinschaft gehörten; sie nahmen nämlich das biblische Gebot, keinen Mitmenschen zu töten, wörtlich und verweigerten infolgedessen aus Prinzip jeden Kriegsdienst.
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