Zum Glück für mein Kreuz und meine gesunden Glieder fiel mir noch rechtzeitig ein, daß ich mich gegen die Lager­ordnung versündigt hatte, und ich wiederholte pflichtschuldigst mit einer Entschuldigung wegen meines ,, Vorbeibenehmens": ,, Mit fünfzehn Häftlingen!" Damit war für den Augenblick der Friede wiederhergestellt. Aber die gute Laune des Wacht­meisters war verdorben. ,, So eine Frechheit!" Ich hatte die Unverschämtheit besessen, Häftlinge als Männer zu bezeich­nen. Männer, Menschen? Das waren im Konzentrationslager nur die Herren von der SS, das ,, Herrenvolk" also.

Diese Zugkraft der Grundsätze! Schon vor dem National­sozialismus hatte Oswald Spengler verkündet: Der Mensch ist nur ein Raubtier, aber deshalb nicht weniger edel, denn Raubtiere sind oft edle Tiere. Wenn nicht dem Wortlaut, dann doch dem Sinne nach hat der Nationalsozialismus in den Fußstapfen Spenglers die Naturgeschichte zu einem morali­schen Spiegelbild der Menschheit gemacht, und im Einklang mit dem materialistischen Untergrund seiner Lebenslehre hat er den Anspruch verkündet, daß größere Macht das Recht verleihe, die Schwächeren zu beherrschen, und sich dienstbar zu machen. Macht ist demzufolge Recht, bei den Menschen so gut wie bei den Tieren; Machtlosigkeit bedeutet Recht­losigkeit, die Bewahrung der eigenen Machtstellung ist das höchste Lebensziel, Vernichtung der Macht der Anderen die höchste Lebensweisheit. Diese Lehre paßt großartig, auch in dem Punkt, daß sie ganz von selbst dahin kommt, das eigene Lebensrecht zu leugnen, sobald andere über die größere Macht verfügen. Und die nationalsozialistischen Erzieher im Konzentrationslager handelten darin ebenso logisch wie unsinnig, daß sie versuchten, ihre Häftlinge so zu drillen, daß sie sich infolge geistiger Abstumpfung oder materieller Not mit dem Schicksal abfanden, Beute zu sein, eine Haltung, die die wehrlosen Tiere gewöhnlich gegenüber den edlen Raubtierarten annehmen.

Aber wie immer zeigte sich die Natur auch hier stärker als die Doktrin. Und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die Raubtiermoral des Nationalsozialismus an der ganz elemen­taren Einsicht der Menschen scheiterte, daß sich die eigene Daseinsberechtigung nicht der zufälligen Begegnung mit einer größeren Machtfülle bei anderen Artgenossen unter­werfen kann. Auch in der Hinsicht, daß sich Widerstand zu

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