War das ernst? War es die reine Verzweiflung durch Erschöpfung? War es vielleicht Berechnung oder die Hoffnung, in den Reihen der ,, Muselmänner" ein ruhigeres Lebensende­zu finden? War es ein Protest gegen die mitleidlose Ausbeutung der mageren Ueberreste ihrer Körperkraft? War es der ohn­mächtige Widerwille, länger für den Feind zu arbeiten?

Die russische Seele verfügt über geheime Regungen, denen. der Westeuropäer kaum nachzuspüren vermag. Das Schau­spiel wude in der Oeffentlichkeit vorgeführt, gerade in einem Augenblick, gleich nach dem Morgenappell, in dem jeder Häftling es sehen mußte. Daß hier eine Absicht vorlag, war ganz unverkennbar. Es geschah wie auf Verabredung, einen Tag nach dem anderen, in zehn Fällen. Stets in dem kritischen Augenblick des Abmarschs an die Elbe und zum Klinkerwerk. Die Geste wirkte keineswegs theatralisch. Aber sie war doch ergreifend, so unbeholfen sie auch sein mochte, fast wie ein Ausbruch von Massenwahn. Man brauchte die Feder eines Dostojewskij, um die Verwicklungen der viel­fältigen und unbewußten Triebkräfte entwirren zu können. Auf jeden Fall, welch ein Ausbruch unermeßlichen Leides!

Einmal sah ich einen Russen an meinem eigenen Tisch in der Baracke, der eben vom Abendappell zurückgekommen war, stumm nach seinem Stück Brot griff, einen Bissen davon hinunterschluckte, noch im Umkippen seine Zähne in den Brotkanten schlug und starb. Man merkte überhaupt keinen Uebergang zwischen Leben und Tod. Hier war auch nicht ein Schein oder Schatten von Komödienspiel zu spüren. War er ausgelöscht, ohne es zu wissen? Oder war es doch Helden­mut gewesen?

Viele Russen verfügten über seelische Kräfte von ehr­furchtgebietender Tiefe.

Ueber manch eine Tragödie fiel der Schleier des Vergessens. Und auch über viele Seelengröße und manche seelische Erbärm­lichkeit. Was die organischen Qualitäten anlangt, so gehört es jedenfalls zu den unsinnigsten Irrtümern der nationalsozialisti­schen Rassentheorie, anzunehmen, die deutschen Menschen seien edleren Gehalts als die verachteten Osteuropäer, deren Heimat das weite Land zwischen den Karpathen und dem Ural ist. Und damit ist immer noch nichts über die kräftige Konsti­tution des unverdorbenen russischen Magens gesagt. Zum Beispiel knabbert ein Russe die Knochen nicht ab, sondern er iẞt sie mit, selbst wenn es sich um Knochen handelt, die

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