Viele gelehrte Phrasen, wie man sie in den Kompendien der Volkswirtschaftslehre oder Soziologie finden mag, scheinen nur noch Vitamin- Tabletten in handelsüblichen Packungen zu sein, wenn man ihren Inhalt an der erlebten Wirklichkeit unserer Gegenwart nachprüft, wie sie sich unter anderem, was vor allem die Allgewalt und Mächtigkeit des Hungers anlangt, in dem Leben eines Konzentrationslagers zeigt. Vitamine schmecken freilich nicht so gut wie die Früchte, aus denen man sie herausgezogen hat, aber das Fehlen der Geschmacksqualitäten läßt deshalb den Wert der in ihnen konzentrierten Eigenschaften nicht geringer werden. Mit anderen Worten, die Berührung mit der menschlichen Natur in ihrer lebendigen Wirklichkeit auf einer anderen Ebene als der der Behäbigkeit der gewöhnlichen menschlichen Existenzbedingungen kann den Blick bis zu mikroskopischer Genauigkeit schärfen, so daß wir in den Normen, die wir in unserem geistigen Gepäck mit uns herumschleppen; ein erstaunliches Maß von Wahrheit entdecken, obwohl wir sie bis dahin mit der. gleichen Oberflächlichkeit hinnahmen, mit der wir die Naturkräfte in handelsüblichen Packungen für nützlich und wertvoll halten.
Selbst geistige Antipoden wie Karl Marx und Thomas von Aquino begegnen sich brüderlich auf der Suche nach dem gleichen Stück menschlicher Wirklichkeit, wenn der eine auf Grund seines historischen Materialismus beobachtet, daß die ökonomischen Verhältnisse den geistigen Inhalt der Lebensgesetze einer Gemeinschaft bestimmen, während der andere in seiner realistisch- finalistischen Weltschau zu dem Schluß kommt, daß ein tugendhaftes Leben nicht möglich ist ohne ein gewisses Maß von Wohlstand. Diese beiden Diagnosen sind so gut wie identisch und befinden sich soweit in unwiderlegbarer Uebereinstimmung darüber, daß wenn man den großen Zusammenhang betrachtet und die außergewöhnlichen Triebkräfte und individuellen Verschiedenheiten außer Acht läßt die materielle Not, in der eine Gruppe von Menschen lebt, diese Menschen langsam aber sicher zu einer anderen Haltung, anderen Gewohnheiten, anderen Anschauungen über das menschliche Verhalten und anderen Moralbegriffen führt, als sie außerhalb dieser Notlage mit dem Unterschied von Gut und Böse zu vereinbaren wären. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Auffassungen des Soziologen aus dem 19. Jahrhundert und des mittelalterlichen Philosophen liegt
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