natürlich über die Tatsache hinwegsehen, daß es auch undank­bare Bewerber gab, ebenso wie es bekanntlich auch unsaubere Katzen gibt. Ein schnelles Abspülen nach dem Appell genügte auf diese Weise schon. Die Empfindlichkeit oder gar der Ekel vor den Spuren von Fingern und Lippen der schleckenden Kunden schienen mit dem wohltuenden Gefühl der Sättigung abhanden gekommen zu sein, das jetzt nur noch in der Er­innerung an frühere Zeiten weiterlebte.

Es kam niemals vor, daß auch nur eine kleine Menge Suppe auf dem Wege von der Küche zu den Baracken ver­schüttet wurde, ohne daß das kostbare Naß sofort mit Löffeln oder in Ermangelung dieser von gierigen Zungen aufgeleckt worden wäre, ganz gleich, wie schmutzig der Fußboden war.

Das Brot, das den Baracken zugeteilte gewöhnliche Kom­miẞbrot, dem gelegentlich auch Kartoffelmehl oder gemahlene Hülsenfrüchte beigemengt waren, gewann eine ganze Reihe neuer und unerwarteter Eigenschaften. Es schmeckte köstlich, es schmeckte immer, ganz gleich, ob es feucht oder trocken, frisch oder alt war, ja, selbst, wenn es schimmelig wurde. Manche schlangen es sofort gierig hinunter, aber die meisten knabberten es auf wie Schokolade und ließen es dabei langsam im Munde zergehen; nicht wenige primitive Gemüter hoben es sich so lange auf wie irgend möglich, gerade so, wie ein Geizhals Gold oder Geld zu verwahren pflegt. Ein Stück Brot nahm man aus jeder Hand, wie schmutzig und ungewaschen sie auch sein mochte; es konnte in Lumpen eingewickelt sein, aus einem verdächtig aussehenden Stück Papier oder aus einer ganz gewöhnlichen Hosentasche herausgeholt werden- dem klassischen Aufbewahrungsort bei uns Gefangenen nie kam einem auch nur der Gedanke an Beschmutzung. Jede kleine Brotrinde hatte etwas von den übernatürlichen Eigen­schaften der Manna, die von den Juden in der Wüste ge­sammelt wurde. Keine Besudelung des Brotes konnte mehr treffen als nur die Oberfläche. Brotkrumen las man nicht nur vom Tisch, sondern auch vom Fußboden auf. Der Begriff Brot erhielt die Weihe des Begriffs ,, Leben". Und jeder, der noch für religiöses Fühlen empfänglich war, bekam Ehrfurcht vor der tiefen Bedeutung der Gebetsworte: ,, Unser täglich Brot gib uns heute." Richtig verstanden schließen diese einfachen Worte die Weisheit unserer gesamten Theologie in sich ein, und ernsthaft gebetet sind sie ein Geleitbrief durch alle Ge­fahren von Leben und Tod.

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