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1942 zu einem Trauertag für alle werden ließen, die ihn kann­ten, führte mich einmal vor das Fenster einer der großen Leichenhallen. Da sah ich ganze Haufen nackter Leichen auf­geschichtet wie Holzstöße. Kurz darauf kam ein Lastwagen auf Gummirädern vorgefahren, Häftlinge verluden die Lei­chen wie Stockfische und zogen den voll beladenen Wagen vors Krematorium. Hunderte von Gefangenen, die noch zu zäh waren, um gleich zu sterben, aber doch zu erschöpft, als daß sie in der nächsten Zeit eine nennenswerte Arbeitsleistung hätten vollbringen können, wurden aufgerufen und ins Kon­ zentrationslager Dachau befördert. Zur Erholung, wie es hieß! Aber in Viehwagen. Viele von ihnen kamen mehr oder weni­ger wiederhergestellt nach Neuengamme zurück, aber nicht wenige hatten die lange und alles andere als bequeme Fahrt mit dem Leben bezahlt. Die allmähliche Ausrottung machte immer mehr Fortschritte. Und ständig wuchsen die Zahlen der Neueingelieferten.

Selbstverständlich mußten diese Herden von Zeit zu Zeit in die unerbittlichen Lagervorschriften eingeweiht werden, natürlich nicht nach französischer Art, sondern mit preußischer Härte. Dazu sollte im Anfang meines Lager­aufenthalts vor allem die enge Berührung mit deutschen Rauhbeinen dienen, die bereits seit Jahren durch die harte Schule des Lagerlebens gegangen waren und daher mit Pöst­chen zum Drillen oder Beaufsichtigen der anderen Häftlinge betraut oder vielmehr ausgezeichnet worden waren. Es war ein Erlebnis ganz besonderer Art, in solch einer Umgebung gelandet zu sein.

Vor meiner Verhaftung hatte ich die Angewohnheit, auf Reisen zu meiner Zerstreuung gelegentlich amerikanische Romane von der Sorte zu lesen, wie sie auf den Reklamesäu­len der holländischen Bahnhöfe als die tollsten Reißer aus dem Wilden Westen und dem Land der Cowboy- Romantik an­gepriesen werden. Fraglos schlummert in jedem Manne immer noch ein Rest der kindlichen Bewunderung für anmaßendes Kraftmeiertum. Und die Veredelung und Verfeinerung dieses Triebes bis zum aufregenden Sportgeschehen unserer Tage, bis zu den Olympischen Spielen , genügt nicht, die Untergründe dieser Leidenschaft zuzudecken., Aber ich schmeichelte mir mit der Meinung, daß diese atavistischen Erscheinungen aus der Zeit des Mittelalters nur noch nachwirkende Erinnerun­gen seien, die höchstens noch einen literarischen Niederschlag

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