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Das hat sich gründlich geändert. Jetzt glaubt sich jeder ein­zelne berufen, Steine nach Dir zu werfen.

Der Benno reagiert nun auf dies alles in einer Art, die mir auch nicht recht ist. Er ist ein mutiges Kerlchen, ja, aber den Stolz, den er jetzt auf sein Judentum herausstellt, kann ich nicht leiden. Doch er läßt sich von mir nicht belehren. Mutti, sagt er, sie verfolgen und verachten uns, weil wir Juden sind. Aber sie sind viel dümmer als ich, da habe ich, gerade ich, ein Recht, stolz zu sein, stolz zu sein darauf, daß ich ein Jude bin. Täte ich es nicht, würde ich Vater verraten, der noch viel mehr leiden muß als wir! Dergleichen erfreut das Herz, nicht wahr? Doch wäre er ein wenig bescheidener, wäre es mir lieber.

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Gestern fiel mir beim Aufräumen ein Buch in die Hände, das Du sehr liebst, aus dem Du mir des öfteren vorgelesen hast: Chinesische Lyrik. Ich blätterte darin, und diese Zeile, jenes Gedicht erinnerten mich an eine glücklichere, sorgenlose Zeit., Zwei Gedichte fand ich, die wunderschön sind und so ganz meine augenblickliche Stimmung treffen. Du wirst sie sicher kennen.

,, Von Orangenblüten regnete das Firmament./ Unser Lager hatte Zeit nicht zu erwarmen./ Als die Sonne sank, lag ich in Deinen Armen./ Frührot sah uns schon getrennt. Sollst nicht in Erinnerung versinken,/ Sei als tapferer Soldat bereit. Einsam webe ich an einem Linnenkleid,/ Und ich will mir nicht mehr meine Brauen schminken.

Meine Blicke lasse ich im Winde wehen./ Vögel fliegen groß und klein:/ Immer, immer fliegen sie zu zwein./ Werde ich Dich wiedersehen?"

Und dann diesen herrlichen Vers von Li- tai- pe, den Du, ich weiß es noch genau, so liebst und mir etliche Male vorgelesen