Er führt Kanülen und Schläuche in Brust und Bauchhöhlen der be­jammernswerten Opfer ein und läßt diese manchmal wochenlang unter aufmerksamster Beobachtung. Er injiziert mit und ohne Betäubung mit langen Nadeln irgendwelche Flüssigkeiten in innere Organe. Sobald der­artige Häftlinge verstorben sind, obduziert er die häufig noch warmen Leichen und untersucht eingehend fast immer nur einzelne Organe, während er den übrigen Körper nur oberflächlich untersucht. Jeder ver­storbene Häftling muß sofort durch einen anderen Kranken ersetzt wer­den, den Neumann sich stets persönlich aussucht.

Heute, da ich diese Zeilen schreibe, ist es mir unbegreiflich geworden, wie wir Häftlinge das damals haben ertragen können.

Das stärkste Motiv, das uns Häftlingen die Kraft gab, die grausamen Dinge durchzustehen, von denen ich typische Einzelheiten in diesen Aufzeichnungen niederschrieb, ohne auch nur im entfernten alles zu erschöpfen, war neben unserer weltanschaulichen und politischen Über­zeugung das Gefühl und das Bewußtsein, daß daheim unsere Lieben waren, die auf uns warteten.

Wir waren im Lager alle im letzten so grenzenlos einsam, und selbst da, wo sich enge Freundschaftsbande knüpften, blieb noch ein kleiner Rest Fremdheit übrig. Unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Freunde daheim, alle jenen Menschen, mit denen wir uns unlösbar verbunden fühlten, das war im innersten Herzen unser kostbarster Besitz. Die immer neuaufkommende Hoffnung, daß uns das Schicksal es doch eines Tages gönnen könnte, wieder mit diesen Menschen zusammen zu sein, riß uns immer und immer wieder empor. Die Freundschaften des Lagers waren sicherlich nicht minder starke Kraftquellen, aber hier hatte uns unsägliche Not zusammengeführt. Die Lieben daheim jedoch hatten sich uns auf anderer Ebene, in freieren Bezirken, ohne den brutalen Zwang der Not verbunden.

Und darum war jede Zeile von daheim, die Ausdruck dieser Bindung war, für uns Todumwehten und Todgeweihten ein seelisches Erlebnis von solcher Köstlichkeit und Eindringlichkeit, von solcher inneren Stär­kung, daß die begnadetsten Worte ihre tiefen Werte nicht darzustellen vermögen. ,, Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch"

Wir Häftlinge durften dann und wann in kurzer Form nach Hause schreiben. Wer dabei aus Unwissenheit oder Dummheit ein unvorsich­

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