Arztzimmer und verrichte meine Arbeit. Die SDG.s kommen, Ding kommt. Es ist ein Tag wie jeder andere.

Da kommt ein Anruf vom Tor.Sofort einen wichtigen Brief ab- holen, aber sofort! Seehausen holt den Brief. Es ist ein doppelt ver- siegeltes Päckchen.Geheim ist mehrfach daraufgestempelt und genaue Anweisung ist gegeben, auf wessen Befehl und wann das Päckchen ge- öffnet werden kann. Es enthält die von langer Hand vorbereitetenBe- fehle an den Lagerarzt des Konzentrationslagers Buchenwald im Falle eines Kriegsausbruchs.

Es ist, als ob das Päckchen in ein Wespennest hineingestochen habe. Ding ist erregt, die SDG.s sind bestürzt. Die Schriftstücke werden vor mir geheim gehalten. Es müssen irgendwelche Formulare ausgefüllt wer- den. Seehausen setzt sich an die Schreibmaschine und müht sich, buch- stäblich schwitzend, eines dieser Formulare auszufüllen. Ding steht da- neben. Es klappt nicht. Ding setzt sich selbst an die Maschine. Er schreibt wie ein leidlicher Anfänger, aber doch noch bedeutend besser als seine rechte Hand, deren Aufgabe es war, alle im Häftlingsrevier anfallen- den schriftlichen Arbeiten zu erledigen.

Es gelingt mir, die Aufschrift auf dem Briefumschlag zu lesen, der achtlos auf dem Tisch liegt. Ding und Seehausen sind viel zu sehr mit der Ausfertigung, ihres Formulars beschäftigt, als daß sie auf mich ge- achtet hätten.Befehle an den Lagerarzt des Konzentrationslagers Buchenwald im Falle eines Kriegsausbruchs. Blitzschnell ist mir die ganze Bedeutung dieser Stunde bewußt, und doch ist es mir so, als hätte ich den Spruch eines Kalendermachers gelesen.

1930 war ich schon in die Versammlungen gezogen und hatte gepredigt: Wer Hitler wählt, wählt Krieg! Und ich war von da ab nicht müde geworden, mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln mich gegen den wie schwärzeste Gewitterwolken drohend heraufziehenden Wahnsinn zu stemmen. Welch verzweiflungsvollen Kampf hatte ich 1932 geführt mit Wort und Schrift, um Deutschland in letzter Sekunde von dem Ab- grund zurückzureißen, in den es und mit ihr die ganze Menschheit zu stürzen drohte! Und selbst da noch, als Hitler mit Lug und Trug, mit Terror, Schrecken und Verbrechen die Macht im Staate erobert hatte, hatte ich die Hände nicht in den Schoß gelegt. Aber immer kleiner war die Zahl derer geworden, die wie ich dachten.

Für mich aber war diese traurige Erkenntnis nur erhöhte Verpflich- tung. Ich wußte, was Faschismus in Wahrheit war. Ich hatte 1923 und 1924 selbst in Italien erlebt, mit welchem brutalen Sadismus Mussolini und seine Schwarzhemden jeden Geistesgegnerliquidierten. Und als

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