ansturm der Häftlinge aber setzte sofort nach Beendigung des Abend­appells ein. Deutlich waren drei Gruppen zu unterscheiden. Als erste trafen die ein, die noch verhältnismäßig gut auf den Beinen waren und darum den Weg vom Appellplatz hinunter nach dem Häftlingsrevier schnell bewältigen konnten. Dann kamen, von den Trägern und Mit­häftlingen gebracht, die Häftlinge, die nicht mehr aus eigener Kraft gehen konnten. Und die dritte Gruppe waren jene Häftlinge, die sich noch mehr oder weniger mühsam allein nach dem Revier zu schleppen ver­mochten.

Und kaum war der erste Häftling im Revier angelangt, dann begann das Wundensäubern, Verbinden, Schneiden, Tamponieren, das Ver­pflastern, die Untersuchung der Augen, der Ohren, des Kehlkopfes, dies Abhorchen des Herzens und der Lunge, diese Perkussion und Aus­kultation, diese Rotlichtbestrahlungen und Lichtkastenbehandlung, diese Schutzimpfungen und Injektionen aller Art. Pflaster, Salben, Solvenstabletten, Prontosil, Gelonida, Hexamythelentetramin, Pan­flavin, Teutonal, Dimethylaminophenazon usw. usw. usw. kamen zur Ausgabe. Hier wurde ein Häftling in stationäre Behandlung genommen, dort der bereits eingetretene Tod eines anderen festgestellt, hier mußte einem Häftling klargemacht werden, daß er gar nicht krank war, und dem anderen dort, daß er seine Erkrankung nicht zu leicht nehmen dürfe, hier wurde mit geradezu intuitiver Begabung die beste Behand­lung durchgeführt, dort passierte ein faustgrober Mißgriff.

Es war ein einziges Kommen, Warten, Behandelt werden und Gehen am laufenden Band, und wenn der letzte Patient kurz vor der Straßen­sperre im Lager die Ambulanz verlassen hatte, dann sanken die Pfleger auf ihren Schemeln zusammen und waren vollkommen fertig, mußten sich erst einmal ein wenig verpusten, räumten ihre Ambulanzen auf und sanken todmüde aufs Lager

Was diese Häftlinge in selbstloser Arbeit an Schmerzen stillten, an Leiden linderten, an Menschenleben retteten, ist nie festzustellen, und was sie leisteten ist fraglos weder im Auftrag noch im Sinne der Lager­leitung gewesen. Das Gebot der Not gab ihnen das Recht. Manchesmal haben sie dabei für ihre Kameraden Kopf und Kragen riskiert, und nicht nur riskiert, sondern auch verloren. Sie waren die unbändige Kraft des Guten, das immer und immer wieder gegen alle furchtbaren Mächte der Finsternis zum Licht vorstößt, tausendmal geknickt, tausendmal zerschmettert, aber ebenso oft und unverdrossen wieder sich erhebend und wirkend. Sie waren die Fleischwerdung des Wortes, das Jones da­mals im Zuchthaus schrieb:

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