Walter Stoecker war bereits infiziert, als er die Schutzimpfung auf eigenen Wunsch erhielt. Er starb, weil er am Leben erhalten werden wollte und sollte. Die damalige Nachricht in ausländischen Zeitungen, daß er im Konzentrationslager Buchenwald ermordet worden sei, stimmt nicht.

,, Auf der Nordseite zwischen den Türmen hängt einer am Draht!", alarmierte mich ein Totenträger, den ich gebeten hatte, mir Bescheid zu sagen, wenn wieder einmal ein Häftling seinem Leben durch Berührung des Hochspannungsdrahtes ein Ende gesetzt hatte.

Ich hatte einen solchen Vorfall noch nicht gesehen, trotzdem diese Art des Freitodes nicht selten war. Das lag daran, daß die Lebensmüden aus begreiflichen Gründen fast immer nur abseitige Stellen wählten und der Drahtzaun, der das riesige Lagerterrain umspannte, selbst von den hohen Wachttürmen nur auf kurze Strecken zu überschauen war.

Und bevor ich Arztschreiber geworden war, hätte ich es auch nicht wagen können, meine Arbeitsstelle zu verlassen. Bei der Selbständigkeit, in die ich mich anfangs nur durch die Eigenart der Umstände, später aber durch immer stärker entfaltete eigene Initiative hineinmanövrierte, konnte ich es jetzt ohne nennenswerte Gefahrenmomente riskieren, ,, Entdeckungsfahrten" zu unternehmen und Privatbesorgungen zu

erledigen.

Ich machte mich also auf den Weg quer durch den Wald nach der mir näher bezeichneten Stelle. Auf halbem Wege sah ich, daß Scharführer Sommer mit einem Häftlingstrupp den Hauptweg zwischen den Barackenreihen herunterkam. Ich kümmerte mich nicht darum und ging geschäftig meines Weges weiter, als hätte ich es besonders eilig.

Der Häftling hatte fast genau in der Mitte zwischen zwei Wacht­türmen den Tod gesucht. Der elektrisch geladene Drahtzaun war an dieser Stelle durch einen Stacheldrahtverhau gesichert, der zwanzig Meter davor etwa drei Meter breit aufgebaut war. Man konnte ihn durch eine Bohle überklettern, die sich der Kamerad wahrscheinlich von einem in der Nähe gelegenen Bretterstapel geholt und darüber gelegt hatte.

Die Überquerung des Drahtverhaues war uns Häftlingen mit der Warnung, daß wir im Übertretungsfalle von den Wachttürmen aus er­schossen würden, verboten. Ich war daran interessiert, den verkrampft im Draht hängenden Häftling näher zu sehen, und da ich in meiner weißen

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