Anblick vergessen, der sich da meinen Augen bot. Ich weiß noch sehr gut, daß ich damals als Kind, als ich zum ersten Male Beethovens Oper Fidelio mehr sah als hörte, ungemein ergriffen war, als die Gefangenen aus ihren Verließen ans Sonnenlicht gebracht wurden. Was damals ein­dringlichst durch die Macht der Kunst in mein Gemüt und damit in mein Weltbild eingegraben wurde, hier wurde es schaudervollstes Er­lebnis, schier unbegreifliche Wirklichkeit.

Da kamen sie aus ihren Baracken, in das Licht stierend, geblendet, bleich, elend, schwach und schwankend. Da brachten sie die Kranken heraus in die Sonne, die Sterbenden, die Toten, ein grauenvoller Zug menschlichen Leides und bejammernswerter Not. Es war so still, so un­sagbar still rund um die Baracken, und doch irgendwo, ganz weit, weit in der Ferne, glaubte mein Ohr jene unsterblichen Töne zu hören, mit denen das größte musikalische Genie der Menschheit vor genau 125 Jahren solchem Elend Ausdruck gab.

Die Nazis aber beschuldigten später nicht einmal einen Juden, sondern einen ganz respektablen Arier aus der Otto- Strasser - Gruppe des Atten­tatsversuchs im Bürgerbräukeller.

Heute morgen, da ich diese Zeilen schreibe, scheint die Maisonne warm und gütig. Der wolkenlose Himmel leuchtet in tiefem, mildem Blau. Unbeweglich stehen die Bäume vor meinem Fenster in ihrem satten, frischen Grün, und tiefster, verheißungsvollster, glückseligster Frieden liegt über der ganzen Natur. Die Feldspatzen tschilpen, ein Zeisig schmettert ohne Unterlaß sein lustiges: ,, Leckleckleckschie, leck­leckleckschie!" und eine Schwarzdrossel röhrt ihre liebeerfülllten, hohlen Schnarrtöne.

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Ich war erst kurze Zeit im Konzentrationslager, und doch waren alle die entsetzlichen Einzelheiten bereits mit so furchtbarer Gewalt auf mich eingestürmt, daß ich das Empfinden hatte, schon jahrelang den grauenhaftesten Traum zu träumen, den sich ein armseliges Menschen­hirn ausmalen kann. Schon begann ich stumpf zu werden. Ich fühlte es deutlich. Ich wollte es nicht, aber ich wurde es. Ich konnte es daran fest­stellen, daß die Prügelszenen, die mich doch am ersten Tage so un­gemein erregt hatten, begannen, für mich ,, uninteressant" zu werden. Die Schmerzensschreie der gequälten Häftlinge gingen an meinem inneren Ohr vorbei, und schon schickte ich mich an, auch zu lachen, wenn ein

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