Vielleicht hatte der Lagerarzt selbst, als ihm die Meldung der Poli­tischen Abteilung vorlag, die Entmannung beschlossen. Vielleicht hatte der Schutzhaftlagerführer Rödl, dessen Spezialität es war, aus tausend gleichgelagerten Fällen, die er vollkommen unberücksichtigt ließ, sprung­haft einen Fall herauszuklauben, die Entmannung ,, angeregt". Vielleicht hatte aber auch der Lagerkommandant SS.- Standartenführer Koch, der alle Zugangsakten durchsehen sollte, aber sich dieser Mühe nur ver­einzelt unterzog, und fast immer nur, wenn ihn jemand auf eine be­sondere Akte hinwies, durch irgendeinen verrückten Zufall aufmerksam geworden, persönlich die Entmannung des Meier gefordert. Ich weiß weder das eine noch das andere. Ich weiß nur, daß die genannten An­lässe möglich sind, weil ich sie in Parallelfällen schon selbst erlebt hatte. Am unwahrscheinlichsten ist mir die Möglichkeit, daß der Lagerarzt selbst der unmittelbare Anlaß der Aktion war, denn in seinem Schreib­tisch lagen genug andere Akten, aus denen er sich viel bequemer einen ,, Fall" hätte herausholen können.

Meier war sich vollkommen klar darüber, in welcher Gefahr er schwebte, denn wie alle Rassenschänder war auch er in die Strafkom­panie eingereiht, und den Häftlingen war es kein Geheimnis, mit welcher Frivolität und Rücksichtslosigkeit alle Häftlinge, die wegen eines Sitt­lichkeitsdelikts eingeliefert oder vorbestraft waren, entmannt oder zur Entmannung vorgemerkt wurden, und der Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Ariern galt nun einmal bei diesen entarteten Nazibestien als schweres Sittlichkeitsverbrechen. Aber Meier wußte auch, daß seine An­gehörigen draußen mit größter Tatkraft bemüht waren, seine Auswan­derungspapiere in Ordnung zu bringen. Und zu seiner Zeit wurden die Juden, die ihre Auswanderungspapiere in Ordnung hatten und nicht irgendwie ,, politisch belastet" waren, noch aus dem Lager mit der Auf­lage entlassen, Deutschland innerhalb 48 Stunden zu verlassen.

Ich hatte es auch schon mehrfach erlebt, daß eine Entmannungs- oder Sterilisierungsakte einstweilen erst einmal wieder beiseite gelegt worden war, wenn ein Häftling die angewandten Druckmittel durchstanden und nicht unterschrieben hatte. Was ich dazu tun konnte, solche Akten dann aus dem unmittelbaren Blickfeld des Lagerarztes zu räumen, habe ich selbstverständlich getan. Wenn sich Meier also weigern würde, die Unter­schrift zu leisten, konnte er eine Chance haben

Der Lagerarzt kam meistens erst zwischen 9 und 10 Uhr ins Lager, während die zum Arzt bestellten Häftlinge sofort nach dem Morgen­appell nach dem Häftlingsrevier geführt wurden und dann an einer Seite der Baracke bis zum Eintreffen des Lagerarztes Aufstellung nehmen

108