Mohr war ein politischer Häftling, ein Funktionär aus Frankfurt am Main , und früher einmal Lagerältester gewesen. Er war durch den Lagerkommandanten SS. - Standartenführer Koch seines Postens ent­hoben worden und hatte sich, durch irgendwelche Zufälligkeiten be­günstigt ,,, verkrümeln" können, wie wir Häftlinge es nannten, das heißt, er hatte aus dem unmittelbaren Blickfeld der Lagerleitung verschwinden und in dem Massenbetrieb untertauchen können. Man hatte ihm all­gemein geraten, hinfort äußerst vorsichtig zu sein und alles zu ver­meiden, was ihn in die Aufmerksamkeit der Lagerleitung zurückbringen konnte, denn man wußte, daß er nur um Haaresbreite am Tod vorbei­gegangen war. Aber bei der Leichtfertigkeit, die bei den meisten Häft­lingen leider an der Tagesordnung war, und insbesondere im Rahmen der turbulenten Ereignisse, die im Zusammenhang mit der plötzlichen Einlieferung von mehr als 20 000 Juden aus Anlaß des Judenprogroms im Jahre 1938 standen, hatte Mohr die gebotene Vorsicht außer acht ge­lassen. Er war, wenn ich mich recht erinnere, im Zusammenhang mit aufgedeckten Alkoholexzessen im Lager wieder in Arrest gebracht worden.

Und nun hoppelt er wie ein waidwunder Hase und wie ein wandeln­des Skelett hinter Scharführer Sommer den Revierweg herunter. Als er an meinem Fenster vorbeikommt, sehe ich, daß er sich zu einem mir nicht sichtbaren Häftling leicht umdreht und dabei mit der rechten Hand die nicht mißverständliche Gebärde des Aufhängens an seinem Hals demonstriert. Sommer verschwindet mit ihm im septischen Ope­

rationsraum.

Bald darauf kommt Dr. Ding mit schnellen Schritten in das Arzt­zimmer, nimmt die Spritze und entfernt sich wieder. Ich bin noch ahnungslos.

Nach einer Viertelstunde etwa kommt Dr. Ding zurück, wäscht sich die Hände und läßt sich die Unterschriftenmappe von mir vorlegen. Er ist ruhig und gelassen wie gewöhnlich, macht scherzhafte Bemerkun­gen und berichtet mir, weil er wußte, daß ich mich dafür interessierte, zwischendurch die neuesten politischen Ereignisse von draußen. Durch das Fenster sehe ich, wie unter Begleitung von Scharführer Sommer der Häftling Mohr auf einer Bahre in den Arrest zurückgetragen wird. Mohr schläft fest und friedlich. Ich bin nach wie vor ahnungslos.

Als Ding seine Arbeit beendet und das Lager wieder verlassen hat, gehe ich in den septischen Operationsraum, um mich zu erkundigen, was mit Mohr los war.

Der Häftlingspfleger, der dort arbeitet, antwortet mir auf meine diesbezügliche Frage: ,, Nichts."

55

85