gegangene erledigt zu haben. Während er sonst auf die leiseste Anmerkung reagierte und ihm nichts zu entgehen schien, nahm er jetzt kaum Notiz davon und machte den Eindruck eines auf eine Sache stark konzentrierten, oder, wie der Volksmund es nicht ganz richtig zu sagen pflegt, eines etwas zerstreuten Menschen.
Diese Veränderung, einmal beobachtet und bald darauf schon fest in mein Erfahrungsgebäude eingebaut, war für mich so typisch, daß ich später nur diese Veränderung an ihm zu bemerken brauchte, um sofort zu wissen, daß er einen Mord oder ein Verbrechen beabsichtigte.
Ich hatte mich einige Zeit aus dem Arztzimmer entfernt. Als ich zurückkam, war auch Ding nicht mehr im Zimmer. Aber in der hölzernen Federhalterschale auf dem Schreibtisch lag eine aufgezogene 20- ccmSpritze, mit einer klaren, leicht bräunlichen Flüssigkeit vollständig gefüllt. Noch war ich ahnungslos, aber ich wunderte mich doch über die Flüssigkeitsmenge, denn ich hatte bislang immer nur beobachtet, daß Ding ein oder zwei oder höchstens drei Kubikzentimeter Flüssigkeit spritzte.
Es ist mir nicht klar geworden, ob Ding diese Manipulation mit Absicht vorgenommen hatte, entweder um herauszuexperimentieren, wie ich mich dabei benahm, oder um mich vorsichtig an Dinge zu gewöhnen, von denen er wußte, daß ich sie ablehnte und verabscheute. Es kann auch sehr wohl sein, daß Ding, als er die aufgezogene Spritze in die Schale legte, nicht im entferntesten an mich gedacht hatte, sondern die Spritze nur aus der Hand legte, weil er weitere Vorbereitungen in dem septischen Operationsraum treffen wollte, der in der Mitte der Stationsbaracke untergebracht war. Die Stationsbaracke lag parallel zu unserer Baracke und war nur durch einen Hofgang von ihr getrennt.
Über den Revierweg kam oben vom Lager her SS. - Scharführer Sommer, der brutale Arrestleiter, auf das Revier zu. Unser Signaldienst benachrichtigte mich, und da ich allein im Arztzimmer war, trat ich an das Fenster, um Sommer zu beobachten:
Sommer kommt mit schlacksigen, schnellen Schritten herunter. Hinter ihm hoppelt ein bleicher, spindeldürrer Häftling sichtlich unter großer Anstrengung her. Zuerst erkenne ich den Häftling nicht. Er hat große Mühe, die viel zu weiten Stiefel ohne Schnürsenkel nicht zu verlieren, mit der Linken hält er sich die Hose vor dem Leib zusammen ( die Hosenträger wurden jedem Häftling im Arrest abgenommen), und mit dem rechten Arm vollführt er bei jedem zweiten Schritt eine merkwürdig rudernde, gleichsam dem Gang nachhelfende Bewegung. Da erkenne ich in dem Skelett den Häftling Mohr.
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