armen des Gevatters Tod zu befreien, es erst soweit kommen lassen mußten, ehe sie es taten. Nun, ihre Macht und Möglichkeiten waren aufs äußerste begrenzt. In der Regel, d. h. in der weitaus überwiegenden Mehrheit aller Fälle, mußten sie hilflos zusehen, wie Tausende von Häft­lingen erbärmlichst dahinsiechten und starben oder gemordet wurden. Nur in wenigen Ausnahmefällen vermochten sie einzugreifen, und das auch nur, weil sie ihr eigenes Leben dabei einsetzten. Und tausendmal und mehr standen sie ganz einfach vor dem grauenhaften Entscheidungs­zwang, unter tausend Häftlingen einen einzigen auszuwählen, den sie dem Leben erhalten konnten.

Man stelle sich einen Arzt vor, der in eine Baracke mit hundert an Fleck fieber erkrankten, todgeweihten Menschen kommt und nur die Medikamente hat, die ihm die Aussicht versprechen, fünf von den Tod­geweihten dem Leben zurückzugewinnen. Er steht einfach vor der Frage, welchen fünf von den Erkrankten er das Medikament verabreichen soll. Er muß sich entscheiden, und je verantwortungsbewußter und wissender er ist, desto schwerer wird die Entscheidung. Soll er das Medikament einem menschlichen Wrack, das sich selbst und der Welt zur Last ist, verabreichen und den Kranken sterben lassen, der gleich daneben liegt und im zukünftigen Leben vielleicht noch wertvollste Arbeit für alle Menschen leisten könnte?--- In dieser Situation waren wir politischen Häftlinge, die wir im nationalsozialistischen Konzentrationslager durch Zufall, Glück und unser Menschentum die Möglichkeit unter dem Ein­satz unseres eigenen Lebens hatten, einem Häftling zu helfen oder ihn am Leben zu erhalten. Aus diesem Grunde allein halfen sich die poli­tischen Häftlinge in erster Linie gegenseitig, was aber keineswegs hieß, daß Häftlingen aus anderen Kategorien nicht auch von uns geholfen. wurde. Und häufig genug ist die Entscheidung zugunsten eines Schwar­zen oder eines Grünen gegen einen Roten gefallen, der sich als Schweine­hund im Lager erwiesen hatte. Es war die Regel, daß unter den poli­tischen Häftlingen das bessere, das wertvollere Menschenmaterial vor­handen war, und aus dieser Erfahrungstatsache hatte sich das oberste ungeschriebene Gesetz im Lager entwickelt: Zuerst der Politische!

Aber wir wären nicht die gewesen, die wir waren, hätten wir nicht mit strenger Selbstkritik auch unter den Politischen die Echten von den Gemachten, die Spreu vom Weizen gesondert.

Und das zweite ungeschriebene Gesetz im Lager war, daß die poli­tischen Häftlinge, die sich auf Grund ihres Kampfes gegen den Nazismus besonders exponiert hatten, abzuschirmen waren. Das war kein Freibrief

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