anzurennen. Ich bedurfte wahrlich nicht des Anschauungsunterrichtes eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers, um zu wissen, zu welchen Konsequenzen dieses ,, Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24. März 1933 mit unausweichlicher Naturgesetzlich­keit führen mußte, aber ich glaube, daß das deutsche Volk dieses An­schauungsunterrichtes noch für Jahrzehnte bedarf.

Unablässig und stetig mahlen die Mühlen der Zeit. Am nächsten Morgen stehen die Zehntausende wieder auf dem Appellplatz. Der Tag ist noch nicht erwacht. Die harte Nachtkälte erstarrt unsere Glieder und der scharfe Wind fährt durch die Kleider. Es ist Schnee gefallen. Die Natur hat ihr weißes Lailach, ihr gütiges, weiches Linnen über alle Dinge gelegt. Aber hier im Lager scheint selbst die Natur gegen die Natur auf­gestanden zu sein, denn alles ist so unendlich trostlos, so schal und leer, so erbärmlich ärmlich, so ganz verlassen von aller Güte und aller Liebe. Wir stehen schon über eine halbe Stunde. Da knarrt der Lautsprecher: ,, Der Stubendienst in den Wald!"

Ich höre, wie der Befehl durch die Häftlinge von Block zu Block mit merkwürdigem Gejohle weitergetragen wird, und sehe, daß sich etwa vierzig bis fünfzig Häftlinge am unteren Ende des Appellplatzes sammeln und sich dann in einer lockeren Gruppe nach dem Wald begeben. Durch die Reihen der Häftlinge geht indes eine eigenartige Bewegung, als habe ein plötzlicher Windstoß einen ruhigen Wald aufgescheucht. Ich kann mir nicht erklären, was das zu bedeuten hat, meine Nebenmänner wissen es auch nicht oder wollen es nicht wissen, nur einer sagt, daß es nun mit der Abnahme des Appells noch eine ganze Zeit dauern wird.

Wir trampeln verhalten mit den Füßen, schlagen die Hände gegen­einander, reiben uns Nasen, Wangen und Ohren. Da höre ich plötzlich hinter mir leise nach meinem Namen fragen. Ich wende mich um. Ein Häftling drängt sich geduckt durch die Reihen unseres Blocks. Es ist Richard Elsner. Er hat die Zeit genutzt, sich durch die Dunkelheit von Block zu Block zu schleichen trotz der Gefahr, erwischt und dann hart bestraft zu werden. Von seinem Stubendienst hat er noch gestern abend erfahren, daß ich hier bin, und nun kann auch er es nicht mehr abwarten, mich zu suchen.

52

Wir stürzen aufeinander zu. Er sagt nur ein Wort: ,, Walter." Auch ich vermag nur ein einziges Wort zu sagen: ,, Richard."