absehbare Zeit zu rechnen habe. Ich mußte bestätigen, daß ich hiervon Kenntnis genommen. Dann erhielt ich meine Papiere zurück, jedoch nicht das Geld, das man mir bei der Verhaftung abgenommen hatte. Was nun? Die Schicksalsfrage, die einst Fritz Reuter bewegte, als er von der Festung Dönitz a. d. Elbe nach jahrelanger Gefangenschaft den Heimweg in seine mecklenburgische Heimat antrat, stand jetzt auch vor mir. Da war ich in den Straßen des alten, wohlbekannten Ulm , ohne einen Reichspfennig in der Tasche. Wie ein Wunder kam es mir vor, nach Monaten wieder Menschen zu sehen, Frauen, Kinder! Wie hatte ich mich gerade nach Kindern gesehnt, die mir auf allen Wegen des Lebens immer die liebsten Begleiter gewesen sind. Der Herbst hatte die Blätter der Bäume braunrot gefärbt. So hatte ich Ulm auch zweiundzwanzig Jahre zuvor angetroffen, als ich hier am 1. Oktober 1911 die Redaktion der neugegründeten sozialdemokratischen Tageszeitung übernahm. Wo waren die vielen politischen Freunde geblieben, die ich mir in den Jahren gemeinsamer Kämpfe erworben hatte! Alle verstreut. Drunten an der Bastei wohnte eine Geschäftsfrau, bei der wir die Lebensmittel eingekauft hatten, solange wir in Ulm wohnten. Sie weinte, als ich von meinem Schicksal erzählte und borgte mir zwanzig Reichsmark. Ohne die Hilfe der guten Frau hätte ich nicht einmal meinen Koffer auslösen können, den ich einstweilen im Handgepäck des Bahnhofs untergestellt hatte. Dann trug mich der Zug rasch in das geliebte Stuttgart , wo mich die Familie in freudiger Überraschung empfing. Was nun? Diese Frage begleitete mich Tag für Tag auf meinen Spaziergängen durch die Wälder des schönen, hochgelegenen Vororts, wo meine Familie im Hause des Schwagers Unterschlupf gefunden hatte.
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