Mein liebes, schwergeprüftes Friedelchen!
Abermals habe ich mit wahrer Erschütterung nach dem Empfang Deiner und Ditas Zeilen über unseren Leidensweg, ganz besonders jedoch über Deine Verfassung, in tiefster Sorge nachgedacht. Fort flogen meine Gedanken zu jener entscheidungsschweren Stunde, als ich, nach dem Aufenhalt im Columbiahaus einigermaßen wiederhergestellt, in die Emigration ging. Das ist nun zehn Jahre her. Wir haben uns seitdem nicht wiedergesehen. Damals fehlte mir noch nicht der Mut, Dir ,, Lebewohl" zu sagen. Niemals im Leben kann ich vergessen, wie Du weinend und immer wieder zögernd auf der Lichtenrader Chaussee standest. Mir war es klar, daß es möglicherweise ein Abschied auf immer sein würde. Und so ist es denn auch eingetroffen.
Gewaltige Ereignisse von einschneidender Bedeutung gehen heute an allen Menschen vorüber, nicht ohne rücksichtslos tiefste Spuren zu hinterlassen. Es bleibt kaum einer von diesen Vorgängen verschont. Überall werden Menschen, die sich liebhaben, auseinandergerissen. Fürchterliche Leiden, wohin man sieht, und der Schrecken ist noch nicht zu Ende.
Nachdem sich der klare Kopf im einzelnen alle die gewaltigen, geschichtlich einzigartigen Entwicklungsphasen des letzten Jahrzehnts vor Augen geführt hat, muß er nun vernunftmäßig die tragische Rolle des Individuums in einer durchaus anderen Weise bewerten, als das Herz sie eingeschätzt wünschen. Hier befinde ich mich in einem entsetzlichen Zwiespalt. Verstandesgemäß kann ich meine Rolle, auch Deine und die der Mitleidenden, richtig eingruppieren. Die geschichtliche Prognose war im wesentlichen richtig. Die Träger dieser
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