Frankfurt , den 9. September 1944

Mein lieber alter Vater, liebe Geschwister!

Der alte Goethe schrieb einmal: ,, Nichts Menschliches blieb mir fremd." Ich glaube, der alte weise Herr hat sich geirrt. Viel Menschliches hat er wohl kennengelernt und auch nachgekostet, ob er aber die Leiden und Küm­mernisse eines Menschen des 20. Jahrhunderts kennen­lernte, bezweifle ich mit Recht. Hat er auch nur eine einzige tolle, furchtbare Bombennacht erlebt? Nein! Denn bis zu seiner Zeit hatte menschlicher Geist noch nicht so furchtbare Vernichtungsmittel ersonnen. Goethes Liebling, Napoleon der I., kämpfte noch mit Kanonen­kugeln, die man hüpfen sah. Heute dagegen? Heute würde wahrscheinlich dem sprachgewaltigen Goethe das Ausdrucksvermögen versagen, angesichts der unge­heuerlichen Vernichtungsleistung menschlichen Geistes. Vielleicht, daß sein Freund Schiller eine mordende Bom­bennacht in Form der ,, Glocke" zustande brächte, wenn er das Zerstörungswerk menschlicher Genies betrachtete. Zerstörung hier, Zerstörung dort. Vernichtung überall. Soeben tönt gerade die Sirene und kündet neue Vernich­tung an. Ob sie auch ertönt, wenn meine Vernichtung vollendet wird? So ist es, meine Lieben! Was ich frei­willig nie tun würde, ist mir nämlich durch Spruch des Volksgerichts am 7. September in Darmstadt zudiktiert worden. An diesem Tage woben die alten, zukunfts­rüstenden Nornen des Schicksals den Todesknoten in meinen Schicksalsfaden. Noch ist mir eine kleine Frist gegeben. Diese möchte ich gerne ausgefüllt sehen mit Eurem Besuche, was mir noch auf der Seele brennt, mit Euch besprechen und noch einmal, zum letzten Male, in verwandte Augen schauen.

Euer Hermann

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