Liebste Maria!
Deine lieben Zeilen fehlen mir sehr. Seit Wochen warte ich sehnlichst darauf. Sicher liegt es wieder einmal an der Vermittlung. Ich hoffe sehr, daß Du Dich wohl befindest und munter. Dies, und die Zuversicht, daß Du Ende nächsten Jahres, nach Ablauf Deiner Strafe, gesund nach Hause zurückkehren wirst, erhält Dein eigenes Leben. Ich wünsche Dir so sehr, daß Du nach all den Kümmernissen noch viel Frohes und Schönes erleben möchtest. Täglich dachte ich an Dich, denn ich bin Dir sehr verbunden. Ist unser Leben auch ein getrenntes, innerlich ist es unzerreißbar verknüpft, und seine Härte und Schwere wird durch das gemeinsame innere Frohgefühl überstrahlt und durchwärmt.
Wenn
Du aus meinem letzten Brief vielleicht einen traurigen Unterton herausgehört hast, so mißverstehe mich bitte nicht. Für das Leben im allgemeinen bin ich, wie immer, voller Bejahung, Hoffnung und Zuversicht. Wenn ich auch für mich selbst bei den Umständen wenig erwarte. In einer Zeit, wo die Welt neu geboren wird, wo große Dinge sich vollziehen, tritt das Einzelschicksal zurück.
Vor einigen Monaten las ich ein Buch ,, Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts". Obwohl man die Geschichte nicht kalendermäßig abwickeln kann, so umschließt doch dieses Jahrhundert eine ganze Epoche, beginnend mit der französischen Revolution 1789, endend etwa mit dem Weltkrieg 1914-1918. Obwohl Vergangenes auch noch in Gegenwart und Zukunft eine Zeitlang hineinragen kann, auch wenn seine Zeit um ist, so wird doch das Resultat des 20. Jahrhunderts nicht
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