TAUBEN
Liebster! Ich schreibe an Dich, in dem Bewußtsein, daß Dich mein Brief nie erreicht. Solch ein Schreiben ist zwar hoffnungslos! Dennoch muß ich es tun. Mit größter Mühe habe ich mir einen Bleistift und einige ziemlich unbeschädigte Stücke Papier Packpapier von eingegangenen Paketen beschafft und habe mir vorgenommen, den heutigen Tag Dir zu widmen und an Dich zu schreiben. Einen Brief, der Dich nie erreicht...
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Solch ein Tag, solch ein Entschluß ist ein großer Luxus in meinem augenblicklichen Leben. Sogar ein recht gefährlicher Luxus. Immer denke ich an Dich, mit Deinem Namen auf den Lippen erwache ich und entschlummere ich, daß ich überhaupt noch am Leben bin und körperlich leidlich durchhalte, verdanke ich meiner großen Liebe zu Dir, die mich täglich stärkt. Bisher durch so viele Jahre habe ich noch nie den Mut gefunden, an Dich zu schreiben. Heute tue ich es zum erstenmal. Und weißt Du warum? Weil in der Welt Frühling sein soll. Das ist sogar sicher! Ich liege im obersten Etagenbett im Auschwitzer Krankenrevier und sehe durch ein winziges, schmales Fensterchen entsprechend wenig von der Außenwelt. Dieser begrenzte, kleine Ausschnitt umfaßt den Stacheldraht, dahinter den mit Rasen bedeckten Bahndamm, auf dem ich die ankommenden und abfahrenden Züge beobachten kann und dann... nein, davon erzähle ich Dir
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