Aber nun war die Situation fast unhaltbar geworden. In den Pferde­ställen im Kleinen Lager, in den elenden Hütten im Zeltlager starben täglich Hunderte; mit all unseren bisherigen Mitteln und Methoden konnten wir es nicht verhindern. Waren wir da nicht verpflichtet, von der versteckten Sabotage zum offenen Widerstand überzugehen? Aber wie lange noch konnten wir überhaupt auch nur die bisherige, ver­steckte Sabotage durchführen? Sicher ahnte die SS schon lange, was im Lager gespielt wurde. Aber wieviel wußte sie und welche Vorberei­tungen hatte sie getroffen zu einem letzten Schlag? Wenn die alliierten Truppen vor den Toren standen und die Existenz des Lagers doch nur noch eine Frage von Tagen war, dann waren die Funktionskräfte ja nicht mehr unentbehrlich und der einzige Grund zur Zurückhaltung für die SS war gefallen.

Wir gingen der letzten und entscheidenden Bewährungsprobe ent­gegen. Würden die amerikanischen Truppen rechtzeitig genug kom­men? Oder mußten wir auch diese letzte Prüfung nur auf uns allein gestellt bestehen? Das waren die Gedanken, die uns in den Märztagen 1945 bewegten.

In den ersten Apriltagen standen die amerikanischen Panzerspitzen in Eisenach , 70 km westlich von Buchenwald . Die Lagerkommandan­tur zog die Außenkommandos in der Umgebung ein. Die Arbeit in den Betrieben wurde eingestellt und alle Häftlinge hinter den elektrischen Zaun des Gefangenenlagers zurückgezogen. Die Verbindungen zur Außenwelt waren abgeschnitten. Die Wachen auf den Maschinen­gewehrtürmen wurden verstärkt.

Jetzt galt es. Wir wußten aus den Erfahrungen der anderen Lager, daß die SS versuchen würde, das Lager vor den herannahenden alliier­ten Truppen zu evakuieren. Und was diese Evakuierung bedeutet, das sagten uns deutlich die Erzählungen der Kameraden, die nun täglich von den weiter im Westen gelegenen Außenkommandos zurückkamen. Endlose Fußmärsche ohne Verpflegung, ohne Nachtquartier, umringt von der Meute der SS- Posten. Jeder, den die Kräfte verließen, der nicht mehr Schritt halten konnte und liegen blieb, erhielt den Genickschuẞ. Weggeworfene Gepäck- und Bekleidungsstücke und die Leichen Er­mordeter bezeichneten den Weg der Häftlingstransporte.

Am Nachmittag des 3. April wurden plötzlich alle deutschen Häft­linge zu einem Appell befohlen. Dort erschien der Lagerkommandant

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