Blick auf den Abreißkalender des Stubenältesten, der am Pfosten zwischen den zwei Fenstern der Stube hing. Die rote Zahl des Sonntags leuchtete zu mir herüber. Und nun überfiel mich der sonderbare Gedanke, daß auf jedem Kalenderblatt auf der Rückseite irgendein Spruch gedruckt steht. Ich konnte mir nicht helfen, ich wollte wissen, was für ein Sprüchlein an meinem Todestage wohl auf dem Kalenderblatt stand. Und dieser Gedanke war so zwingend, daß ich meine zerschlagenen Knochen vom Boden aufraffte, zum Abreißkalender ging, das Blatt hob und las, was dort stand. Ich habe es in meinem Leben nur einmal gelesen, aber was ich dort las, das werde ich noch in meiner Sterbestunde wörtlich wiederholen können:
,, Sei nur getrost, so lang ist keine Nacht, daß ihr nicht doch zuletzt ein Tag erwacht." Shakespeare .
Dieses Shakespeare 'sche Zitat traf mich wie ein Keulenschlag. Unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft schleppte ich mich in den Schlafraum. Dort verkroch ich mich hinter der hintersten Bettstelle und heulte wie ein geprügelter Hund.
Als kurze Zeit später der Ruf ,, Strafarbeiter antreten" ertönte, erhob ich mich und trat an. Und ein Wunder geschah: Wagner erschien nicht mehr als aufsichthabender SS.- Oberscharführer, sondern ein anderer, der sich weniger um uns kümmerte, sodaß ich den Nachmittag gut überstand. Sonst wäre ich nicht mehr hier und könnte nicht mehr zu Ihnen sprechen.
Die ersten Wochen meiner Strafarbeit hatte ich nun hinter mir und auch die folgenden Wochen gingen vorüber. Aber ich habe, wie Sie hören, diese Zeit noch sehr gut im Gedächtnis und ich habe auch den noch im Gedächtnis, der die Schuld an jenen leidvollen Wochen, die ich durchzumachen hatte, trägt.
Vergeltung!
Ich bin durchaus nicht erstaunt, daß sich Kreisleiter Sponer nicht mehr daran erinnern kann, daß er mir diese Wochen voll unerträglicher Qual besorgt hat, denn aus einer Rede von Herrn Oberbürgermeister Kalbfell in Reutlingen geht hervor, daß er noch nicht einmal weiß, daß ich 52 Jahre im KZ.
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