Umbruch und erste Haft

4. März 1933. Zwei Tage vor der Reichstagswahl. Aus dem Fenster unserer Wohnung hing eine große rote Fahne. Eine der letzten Fahnen im ,, roten Wedding ", dem Berliner Arbeiterviertel mit bisher klarer sozialistischer Mehrheit. Plötzlich: ein Pfei­fen vom Hof her. Eine Stimme ruft: ,, Achtung, be­waffnete SA stürmt eure Wohnung!" Wir hatten gerade noch Zeit, Kette und Riegel vorzulegen. Schon prasselten Kolbenschläge gegen die Flur­türe. Stimmen riefen: ,, Aufmachen, ihr roten Hunde!"

Wir hatten eine große Wohnung. Die Vorder­zimmer benutzte ein jüdischer Genosse, Georg Ben­ jamin , als ärztliche Praxisräume. Es war 5 Uhr nachmittags. Sein Wartezimmer war voll. Die erschreckten Patienten drängten ins Untersuchungs­zimmer. Eine magere Frau lag entblößt auf dem Untersuchungsstuhl. Zitternd umringten die Leute den Arzt. Er war blaẞ. Was machen wir?" fragte er leise.

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Draußen stauten sich die Massen. Es war gerade die Zeit, in der die breite, belebte Straße von den heimkehrenden Arbeitern gefüllt war. Einige tau­send Menschen standen da unten, die Gesichter zu unseren Fenstern hinaufgewandt, zu der langen, langsam wehenden roten Fahne.

Ich öffnete das Fenster und rief mit lauter Stimme hinein in die erwartungsvoll schweigende Menge: ,, SA überfällt unsere Wohnung! Helft uns! Holt Polizei!"

Die Kolbenschläge dröhnten gegen die Flurtür,

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