Sie war noch jung- Erwin mußte es erst ausrechnen, nicht mehr als zweiundvierzig Jahre alt. Wie konnte es nur ge­schehen, daß sie nun von einem Tag auf den anderen krank wurde?

Von einem Tag auf den anderen? Die Krankheit mochte seit langem begonnen haben. Viele Monate waren vergangen, ohne daß Erwin nach Haus gefahren war. Er hatte sich mit billigen Ausreden entschuldigt: Überstunden in der Bank, Veranstaltungen des Sportvereins, dem er angehörte. So hatte er die Mutter vernachlässigt, hatte sich von ihr innerlich ab­gewandt. Das war nicht zuviel gesagt. Ihr Drängen, daß er wenigstens dann und wann einmal übers Wochenende nach Hause kommen möchte, hatte er wie eine Belästigung emp­funden. Und er hatte sich nicht darum gekümmert. Doch nun war sie krank, krank genug, um einer Klinik zu bedürfen. Erwin erinnerte sich, wie Waldinger einmal auf der Jagd voller Stolz auf seine Geschicklichkeit einen Rehbock aus­geweidet hatte. Er sah die blutigen, dicken Finger des Arztes vor sich. Die Angst um die Mutter stieg wie eine Flut in ihm an. Verlangend blickten seine Augen über die glatten Schie­nenstränge.

Auf die Tafel, die in der Mitte des Bahnsteigs Ankunft und Abfahrt der Züge anzeigte, schrieb ein Beamter mit Kreide: ,, Zug von Mellrichstadt 12 Minuten Verspätung." Erwin setzte seine Wanderung mit beschleunigten Schritten fort, als wolle er damit die Zeit zu schnellerem Laufe treiben. Dabei nahmen seine Gedanken, so sehr er sich auch dessen schämte, ihren eigenen Weg. Die Mutter, dachte er und hielt den Hut mit der Hand fest, damit ihn der Wind nicht fort­reiße, die Mutter wird in Waldingers Klinik bleiben. Was aber würde der Vater tun? Würde er sich in der Stadt auf­halten, oder würde er, wie sonst bei seinen kurzen geschäft­lichen Besuchen, wieder nach Hause fahren?

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