Er blieb am Tisch stehen und leerte das Glas, das ich von neuem gefüllt hatte. Er glaubte wohl in diesem Augenblick selbst, was er da sprach. Aber ich war sicher, er glaubte es nur in diesem Augenblick. Ich erinnerte mich seiner früheren Arbeiten. Er hatte einmal einen guten Pinsel geführt. Wie war er doch verdorben worden!
Vor Jahren hatte er jene Berufung nach dem Westen Deutschlands erhalten, die ihm so verhängnisvoll geworden war. Von der Industrie gefördert hatte das Neue Museum ursprünglich mit reichen Mitteln einer um sachlichen Ausdruck bemühten Kunst beigestanden. Dann aber, nachdem die Herren von Kohle und Eisen ihr ,, soziales Gewissen" entdeckt, sich für die braune Diktatur, die Wiederaufrüstung und einen neuen Krieg entschieden hatten, hatten sie unter dem grauen Himmel ihrer rauchenden Schlote auch nach einer ,, stählernen Kunst" verlangt, nach einem ästhetischen Ausdruck für ihren Hunger nach Macht und höheren Profiten, der in der Literatur die ,, Sehnsucht nach dem tausendjährigen Reiche" genannt wurde. Viele hatten damals der Essener Institution den Rücken gekehrt, Lernau nicht. Er hatte behend das Pathos der großen Lügen übernommen und malte nun schreitende Kämpfer.
Ich fühlte, daß es meine Pflicht sei, endlich einmal mit ihm zu sprechen. Aber ich tat es nicht. Man verschwieg alles Wichtige in dieser Zeit.
Ja, das war das Kennzeichen jener Jahre, daß man das Wichtige verschwieg. Niemand wagte es auszusprechen oder zu schreiben oder im Bilde laut werden zu lassen. Es war verboten! So hütete man sich davor. Man dachte am Ende nicht mehr daran, es zu denken. Nicht nur, weil es verboten war; nicht nur, weil Gewöhnung an das Verbot uns überkommen hatte. Die Begegnung mit dem Wichtigen war schmerzvoll für uns, darum hüteten wir uns vor ihr.
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