Gewiß ist der Hunger eine mächtige Ursache für viele menschliche Gefühlsregungen, die an Stärke häufig das nor­male Maß übersteigen. Er ist in hohem Maße eine Quelle körperlicher Qual und seelischer Abstumpfung, giftiger Eifer­sucht und stürmischer Leidenschaft, blinder Habsucht und alles riskierender Rücksichtslosigkeit. Hunger kann alle mög­lichen Laster hervorbringen, vom einfachen Diebstahl bis zur mörderischsten Verleumdung über alle Grenzen der Selbst­beherrschung hinaus.

Öffne nur einmal das Tor dieses Reiches, und du siehst mit atemberaubender Klarheit, wie schwimmend die Grenze zwischen Mensch und Tier ist, zwischen dem Tier, das seinen Artgenossen nur vernichtet, um seinen, Hunger stillen zu können, und dem Menschen, den neben diesem tierischen Trieb auch noch die unerbittliche Geißel des Brotneides antreibt, der seinen Mitmenschen vernichtet oder gefoltert sehen will, ohne daß er sich davon irgendwelchen materiellen Vorteil versprechen könnte.

,, Die Wesenszüge eines Engels und eines Tieres miteinander vermischt", so hat Vondel den Menschen beschrieben. Dieser zwiespältige Charakter des Menschen ist nun nicht einfach eine Zusammensetzung aus einem höherwertigen und einem niederen Bestandteil, von materiellen Kräften und geistigen Merkmalen. Es ist vielmehr eine innige Mischung von zwei in sich vollständigen Naturen, von denen jede zu den Höhen und Tiefen des Lebens Zugang hat, die wir als gut und böse bezeichnen. Das Element des Menschen, das ihn den Engeln an die Seite stellt, beschränkt sich nicht auf die Gabe des Denkens und auch nicht darauf, ihm die Kräfte des Geistes für die Bedürfnisse und die Bereicherung seiner leiblichen Existenz zu erschließen. Dieser ,, engelhafte" Bestandteil führt oft gleichsam ein Eigenleben, das zwar noch unter dem Ein­fluß der tierischen Körperlichkeit steht, aber doch Höhen und Tiefen kennt, die außerhalb jeder Beziehung zu körperlichen Bedürfnissen stehen. Nicht nur der Drang nach Güte und Schönheit um ihrer selbst willen ist ebenso wie das uneigen­nützige Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit in diesem ,, engelhaften" Leben wirksam, das neben der körperlichen Existenz des Menschen einhergeht, sondern auch die drachen­ähnliche Vielköpfigkeit der Neigungen, die gerade auf das Gegenteil von dem ausgehen, was gut und schön, wahr und gerecht ist.

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