Wertgegenstandes abging— und Wert hatte alles für uns. Manchmal hörte man mitten in der Nacht die Pfeife des - Blockältesten, und die ganze Belegschaft der Baracke mußte Hals über Kopf in den vorderen Teil des Blocks stürzen, wo- bei man in der Regel die Kleider noch in der Hand hatte, um aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen— oft war es nur eine Laune des Lagerkommandanten oder Blockführers— einen neuen Anwesenheitsappell über sich ergehen zu lassen. So war das in den Jahren 1941, 1942 und 1943. Und zu dieser Zeit war es, wie einem die Veteranen des Lagers erzählen konnten, noch beneidenswert angenehm im Vergleich zu dem, wie es vorher gewesen war. Und wie war das früher?
. Die Erzählungen vieler Häftlinge, Deutscher sowohl als Polen und Tschechen, ließen überhaupt keinen Zweifel an der sadistischen Grausamkeit des Lagerregimes in seiner ur- sprünglichen Form aufkommen, die in Neuengamme lediglich im Interesse der zu leistenden Arbeit gemildert worden war.
Früher wurde man mitten in der Nacht, tief im Winter, von seinem Strohsack geholt, trotz der vierzig Grad Kälte nur mit dem Hemd bekleidet, und mußte stundenlang im Freien ste- hen, um die Appellkomödie zum soundsovielten Male über sich ergehen zu lassen. Ebenso mußte man früher häufig an heißen Sommertagen seine Sonntagsruhe opfern und ohne Kopfbe- deckung regungslos in der prallen Mittagssonne stehen, wäh- rend die Leidensgefährten um einen herum einer nach dem anderen den Sonnenstich bekamen oder ohnmächtig zusam- menbrachen. Jaak Nooter, der erste Holländer, der in Neuen- gamme die Methoden der deutschen Konzentrationslager zu spüren bekam, hatte diese Art Sonnenbad als Kollektivstrafe für irgendein kleines Vergehen im Juni 1941 kurz vor meiner Ankunft erlebt. Während meines Aufenthalts im Lager ist eine derartige Quälerei nicht mehr: vorgekommen.
Denn nun wurde eine Art Pause in den Mißhandlungen eingelegt, offensichtlich nur, um bald darauf eine neue Nuance in die langsam arbeitenden Foltermethoden-zu bringen. Jetzt wurden nämlich die schwachen Kräfte der Häftlinge syste- matisch überbeansprucht. Die Mehlzuteilung wurde von einem Drittel auf ein Viertel und später ein Fünftel Brot hinabge- setzt und die Arbeitszeit ausgedehnt. Selbst am Ostersonntag und zu Pfingsten mußten wir früh am Morgen ausrücken und den ganzen Tag durcharbeiten. Nur am Weihnachtstag ließ man uns Ruhe. Der Glanz des Weihnachtsfestes war noch nicht
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