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Heilmann konnte sich nur mühsam setzen. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust in jener typischen Weise, die ich an ihm kannte, und faßte sich dann an das bartstoppelige Kinn mit jener charakte- ristischen Gebärde, mit der er einstmals durch seinen Vollbart gegriffen hatte. Dann, als hole er mühsam die Erinnerung aus tief verschütteten Schächten, rekapitulierte er leise vor sich hin:Ja, in Westfalen warst du, gehörtest zu den Jungen, die uns zu schaffen machten. Dein Vater in Kiel , der zweite Stadtrat, den wir in Preußen in der Kaiserzeit durch- setzen konnten. Lebt er noch? Als ich verneinte, fuhr er meditierend fort:‚Ich habe ihn gut gekannt, sehr gut gekannt. Karl Legien war sein Reichstagsabgeordneter. War er schon siebzig? So, so, fünfundsiebzig. Ein gutes Alter. Hat man ihn auch geholt? Nein? Gekürzte Pension? Ja, ja, wie üblich. Aber er hat unbehelligt sterben können. So hat wenig- stens die letzte Stunde eingelöst, worauf sein Leben ihm Anrecht ge- geben hat. Und du? Vier Jahre Zuchthaus? Anschließend hierher?

Und dann unterhielten wir uns über gemeinsame Bekannte, über politische Dinge, über die Gründe, die nach unserer Ansicht zum Zu- sammenbruch der Demokratie und die Verankerung des nationalsozia- listischen Verbrechertums geführt hatten.

Heilmann bestätigte mir, daß er von Oranienburg seinerzeit nach dem berüchtigten Konzentrationslager Esterwegen bei Papenburg gebracht worden war, daß man ihn dort immer und immer wieder mißhandelt und gefoltert habe. Er bestätigte mir, daß er mehrfach in die Hunde- hütte gesperrt wurde und daß er die Leute, die an der-Hütte vorbei- gingen, habe anbellen müssen. Er erzählte mir weiter, daß er dann eines Tages am Ende seiner Widerstandskraft gewesen sei und beschlossen habe, sich erschießen zu lassen. Er sei darum über die Postenkette hin- ausgegangen und habe den Anruf nicht beachtet. Der Posten habe ihn aber nur durch das rechte Bein geschossen. Als ich fragte, wie er sich die weitere Entwicklung vorstelle, sagte er:Es wird Krieg geben, ihr Arier werdet noch eine Chance haben, denn sie werden euch brauchen. Aber uns Juden wird man wohl alle totschlagen.

Ich bin während meiner Lagerzeit noch mehrfach mit Heilmann zu- sammengetroften, ohne allerdings längere Aussprachen mit ihm zu haben.

Während es sonst wohl in der Macht des Häftlingskapos lag, diesen oder jenen Häftling aus dem unmittelbaren Blickfeld der Lagerverwal- tung zu rücken und ihm eine einigermaßen erträgliche Beschäftigung zu vermitteln, war das bei Heilmann nicht möglich, denn er zählte zu den Prominenten und war außerdem noch ein besondererFreund des Schutzhaftlagerführers SS.-Obersturmbannführer Rödl und des Lager-

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