Zur näheren Charakterisierung der in Buchenwald durchgeführten Entmannungen greife ich drei Durchschnittsfälle als typisch für alle heraus:

Der Häftling X. aus Königsberg war mit neunzehn Jahren als arbeits­scheuer Häftling in das Lager eingeliefert und bald darauf von dem da­maligen Lagerarzt Dr. Kirchhoff entmannt worden. Ich habe Kirchhoff persönlich nicht mehr kennengelernt und verzichte darauf, die Erzäh­lungen der Mithäftlinge über diesen ,, Menschen" wiederzugeben. Daß seine ,, Spezialität" neben anderen Grausamkeiten Sterilisierungen und Entmannungen waren, habe ich an Hand der im Häftlingsrevier vor­handenen Akten feststellen können. Der Fall des Häftlings X. wurde mir deshalb näher bekannt, weil nach der Entlassung des Häftlings eine Anfrage durch die Stapo- Leitstelle Königsberg über die Entmannung einging.

X. war bei der Aktion aus dem Lager entlassen worden, die im Früh­jahr 1939 zweifellos im Zusammenhang mit den Vorverhandlungen stand, die seinerzeit auf den Abschluß des Freundschafts- und Nicht­angriffspaktes mit Rußland abzielten.

Um die nötige Atmosphäre für die Verhandlungen zu schaffen, wurde damals eine größere Anzahl Häftlinge aus dem Lager entlassen. Ein An­haltspunkt, nach welcher ,, Norm" die Entlassungen vorgenommen wur­den, war uns Häftlingen nicht sichtbar. Wir hatten vielmehr den Ein­druck, daß auf den Karteikästen des Sicherheitshauptamtes in Berlin , von wo die Entlassungslisten durch Fernschreiber im Lager eingingen, ein Wellensittich saß, der wahllos die Karten zog. Es wurde einfach ,, alles" entlassen, alle Häftlingskategorien, alte Konzentrationäre und Leute, die erst gestern eingetroffen waren, Unbestrafte und Bestrafte, Kameraden, die nie im Lager aufgefallen waren, und solche, die schon einen ganzen Sack voll Lagerstrafen hinter sich hatten, hohe ehemalige Funktionäre der nazifeindlichen Parteien und politisch unbeschriebene Blätter, Totkranke und Gesunde, Kameraden, die nur einfach eine Num­mer im Lager waren, und solche, die eine nicht von heute auf morgen anderweitig zu besetzende Funktion ausübten, Häftlinge, die sich als alte Nazis bei der Lagerleitung einer gewissen Gunst erfreuten, und solche, die im Lager nur noch zu sterben hatten. Es war gar kein Zweifel möglich, die Nazis wollten mit dieser Aktion keine Amnestie durch­führen, sondern eine ,, Zahl" konstruieren, mit der sie bei den rus­sischen Verhandlungen in zweifacher Hinsicht Eindruck schinden woll­ten: Seht, so stabilisiert sind wir, daß wir uns das erlauben können! Und: Seht, so entgegenkommend können wir euch gegenüber sein, denn

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