Ich mache unwillkürlich eine Bewegung, um dem Verunglückten beizuspringen, aber mein Hintermann schiebt mich gebieterisch im gleichen Augenblick nach vorn und zischt mich an: ,, Bist du verrückt, Kerl? Weiter!" Und bevor mir recht klar wird, was mir geschieht, flüstert mir der Hintermann zu: ,, Was meinst du wohl, was die SS. mit dir anstellt, wenn du dem da beispringst?!"
Als wir oben angekommen sind, wird das Zeichen für die Mittagspause gegeben, aber wir müssen erst wieder nach unten, wo die meisten Häftlinge sich trotz der Kälte bereits hingelegt und hingesetzt haben.
Der Häftling, der vorhin aus unserer Reihe den Hang hinunter gestürzt ist, liegt merkwürdig langgestreckt auf dem Boden. Man hat ihm den Brotbeutel unter den Kopf geschoben und ihn mit einem zweiten Mantel zugedeckt. Sein ungewöhnlich hageres, faltenreiches Gesicht ist kalkweiß. Die Haut auf dem linken Backenknochen, an der Schläfe und an der linken Nasenseite ist abgeschürft. Aus einer Wunde unterhalb des Backenknochens sickert Blut, sonderbar blaurot, ungesund und dünn, sickert in schmalem Streifen über die Kinnbacke und verliert sich zwischen dem hochgeschlagenen Mantelkragen des Häftlings. Seine Augen sind geschlossen, und sähe man nicht, daß sich der flache Brustkorb langsam hebt und senkt, man könnte der Meinung sein, daß er tot ist. Seine Hände sind nur noch Haut und Knochen, merkwürdig glasig- wächsern und sonderbar langgestreckt.
Mein Hintermann in der Arbeitsreihe hat sich neben mich gesetzt. Jetzt erst sehe ich, daß er ein Schwarzer ist. Er holt sein Brot hervor und kaut mit vollen Backen. Ich ziehe mir die Stiefel aus, um meine Füße zu untersuchen. Meine Zehen sind blutig wund. Die kalte Luft tut wohl, aber der Schwarze sagt mir: ,, Nur nicht zu lange kühlen, das ist gefährlich. Du mußt dir die Zehen fest umwickeln, sonst machst du morgen bestimmt schlapp." Als er sieht, daß ich mir den einen Fuß mit einem Taschentuch umwickele und für den anderen Fuß keinen Lappen mehr habe, kramt er in seinem Brotsack herum und holt einen schmutzigen Leinenstreifen hervor. Er gibt mir ihn mit den Worten: ,, Den mußt du mir aber morgen wiedergeben."
,, Gibt es denn hier keinen Sanitäter?" frage ich ihn, indem ich mit dem Kopf eine Bewegung nach dem abgestürzten Häftling mache.
,, Doch", antwortet er ,,, aber was soll der dann noch viel bei dem da machen? Wenn man ihn jetzt in das Lager bringen dürfte, würde er vielleicht noch ein paar Wochen mittun. Aber flötepiepe, das ist nicht. Den nehmen wir heute abend mit. Und wenn er dann noch nicht tot ist, dann ist er es bestimmt morgen früh.“
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