taucht eine dritte- vierte- fünfte- sechste Karawane auf, eine grausige Prozession, die sich mir um so schwerer auf die Seele legt, weil ich sehe, daß sich kaum ein Häftling darum kümmert.
Richard Elsner hat mir schon gestern bestätigt, daß die Sterblichkeit im Lager sehr groß und daß die zynische Unterhaltung der beiden SS.- Leute auf dem Flur in der ,, Politischen Abteilung" wahrscheinlich nicht übertrieben gewesen sei, dennoch bin ich durch den Anblick derart erschüttert, daß ich den neben mir stehenden Häftling hilflos frage: ,, Sterben denn wirklich im Lager hier täglich so viele?"
Der antwortet mit derselben Sachlichkeit und Unbewegtheit wie vorhin: ,, Die Leichenträgerkolonne ist heute schon ein paarmal vorbeigekommen. Du brauchst nur eine kleine halbe Stunde zu warten, dann kannst du den nächsten Sechserschub sehen."
Und es ist in der Tat so, wie der Häftling sagt.
Den frühen Nachmittag nutze ich, um unter Richard Elsners Führung das Lager genauer kennenzulernen. Er zeigt mir die große Häftlingsküche, die technisch vorbildliche Wäscherei und die ausgedehnte Gärtnerei. Wir gehen nach dem Wald, den Revierweg hinunter, der später eine so große Bedeutung für mich haben wird, ich sehe zum ersten Male das Häftlingsrevier, und wir schlendern quer durch den Wald nach den großen Stallungen und kommen dann an das Nordwestende des Lagers.
Dort ist der Wald in breitem Streifen gerodet, und wir können talabwärts einen weiten Blick ins deutsche Land tun, über den elektrischen Draht hinweg, an den Wachttürmen vorbei. Richard Elsner zeigt mir die Höhenzüge des Thüringer Waldes , den Gickelhahn, und dann hoch oben im Nordwesten den Harz mit dem Kyffhäuser . Ich muß immer wieder nach dem Gickelhahn hinüberschauen. Er liegt so nah und doch so unendlich weit von mir.
Ich denke an jene längst verklungenen Wochen, als ich vor fast zwanzig Jahren nach den Jugendtagen von Weimar durch den Thüringer Wald gewandert bin und auch auf dem Gickelhahn war, ein junger, freier, gläubiger, sorgloser Mensch. Und alles, was ich damals fühlte und wollte, meine ganze Gläubigkeit und Seligkeit, alle meine Ideale, mein fröhliches Herz und mein frohgemuter Sinn von damals, alles, alles
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