Mehrere Stunden des Nachmittags verbringe ich mit Richard Elsner. Er ist immer noch der Alte, nur gereifter, vorsichtiger, ernster. Sein körperlicher Zustand macht ihm zu schaffen. Er ist schon fast ein ganzes Jahr im Lager, und es ist ihm auf Grund seines Gesundheitszustandes und mit Hilfe von politischen Freunden gelungen, in der Strumpfstopferei Beschäftigung zu finden. Außerdem macht er sich im Stubendienst seines Blocks, beim Kantineneinkauf usw. nützlich. Er ist aufgeschlossen, gibt mir manchen wichtigen Fingerzeig und umsorgt mich mit rührender Hingabe. Er ist selbst Nichtraucher, aber hat sich ein paar Zigaretten besorgt, weil er weiß, daß ich Raucher bin. Er hat, wer weiß woher und wie, ein Stückchen Feigenbrot, so wie es den Kindern unter den Weihnachtsbaum gelegt wird, und nachdem er es geteilt hat, zwingt er mich, die größere Hälfte zu nehmen.
An den beiden Weihnachtstagen wird nicht außerhalb des Lagers gearbeitet. Die Mehrzahl der SS.- Leute ist auf Urlaub, so daß keine Postenkette gestellt werden kann.
Am ersten Weihnachtstag nach dem Appell wird meine Häftlingsnummer mit zahlreichen anderen durch den Lautsprecher aufgerufen. Die Aufgerufenen müssen an Schild 2 antreten. Ich bin schon vorher orientiert, daß an diesem Schild, das mit einer Reihe anderer oben am Tor steht, die Häftlinge anzutreten haben, die zum Lagerarzt müssen, und ich laufe deshalb völlig beruhigt nach oben.
Wir werden in eine ausgeräumte Baracke geführt, müssen uns völlig entkleiden und uns mucksmäuschenstill verhalten, um die ärztliche Aufnahmeuntersuchung nicht zu stören.
Zwei Häftlinge sitzen da, die die schriftlichen Arbeiten erledigen. Der eine von ihnen nimmt unsere Personalien auf, der zweite schreibt auf, was der Arzt ihm über unseren Gesundheitsbefund diktiert. Der Arzt ist ein älterer, hagerer Mensch, mit zerfurchten, strengen Gesichtszügen, markanter Hakennase, schmalen Lippen, verbissener Mundpartie. Er trägt einen Kittel, ist aber auch kahlgeschoren. Er scheint sein Handwerk zu verstehen. Seine Sprache ist gewählt, langsam, würdevoll, akzentuiert. Er stellte präzise Fragen nach durchgemachten Krankheiten, horcht zuweilen mit einem Hörrohr Herz und Lunge ab, diktiert Krankheitsbefunde, ändert die Angaben der Häftlinge ins Fachmännische ab, sieht sich Geschwüre, Hautausschläge, Wunden und Narben genauer an
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