Als ich mich im Laufe des Sommers 1943
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im Geheimen mit einem Geretteten des ,, Musterlagers" Oranienburg traf, von dem wir ja wissen, daß es noch eines der menschlichsten und erträglichsten war, erzählte er mir, was er während seiner dreimonatlichen Haft erlebt und gesehen hatte. Seine Enthüllungen übertrafen meine gewagtesten Vorstellungen! Trotz der tiefsten Abscheu vor den Nazipeinigern hätte ich derartiges weder vermutet noch gefürchtet! Plötzlich war ich einer so grausamen und teuflischen Wahrheit gegenüber gestellt, daß die Bedeutung und das Schicksal des Menschen an sich in Frage gestellt wurde. Nunmehr begriff ich, daß es für mich nur noch eine Pflicht gab, die alles andere hinfällig machte: Ich mußte die Öffentlichkeit zumindest diejenige, der das geheime Schrifttum zugänglich war von diesen grausamen Zuständen in Kenntnis setzen, denn für einen Menschen von Geist und Gefühl war es untragbar, daß bestimmte Menschengruppen in dieser Hölle versanken, während andere ruhigen Gemütes ihren Geschäften nachgingen, aßen und schliefen. Als ich dann, im Tiefsten erschüttert, die Feder ergriff, um allen Menschen, die guten Willens sind, diese ,, schlechte Nachricht" zu verkünden, wagte ich trotzdem nicht, eine objektive Schilderung zu geben. Noch immer fürchtete ich, meine Darstellungen könnten die Wirklichkeit übertreffen. So schrieb ich ,, DEN TRAUM "( ,, LE SONGE") und stellte vorsichtshalber viele grausame und wilde Szenen als Traumbilder dar, weil ich fürchtete, man könnte mir später vorwerfen, ich hätte mich aus Empörung zu Übertreibungen hinreißen lassen.
Als ich dann ein Jahr päter, nach der Säuberung des Geländes, in den Zeitungen von den erstaunlichen Entdeckungen im Lager STRUTHOF las: die Beschreibung menschlicher Vivisektion, die Erklärung des deutschen Wärters und seine unwahrscheinlichen Märchen von mumifizierten Köpfen, die, so präpariert, seinem Chef als Briefbeschwerer dienten, konnte ich, trotz des bereits Gehörten, noch immer nicht alles glauben. Ich schrieb einem meiner Freunde, Leiter einer dieser Zeitungen, um zu protestieren und ihn zu warnen: ,, Wie 1918," schrieb ich ihm ,,, werden Sie dem Spiel der Deutschen entgegenkommen, wenn Sie die Spalten Ihrer Zeitung solchen Erfindungen zur Verfügung stellen. Erinnern Sie sich: Unwahrscheinliche Geschichten über Leichenfabriken, wo die Deutschen angeblich ihre Seife produzierten, waren erzählt worden. Später konnten die Deutschen die Untragbarkeit dieser idiotischen Anschuldigungen beweisen und in den Augen der Öffentlichkeit dadurch alles in Frage stellen. Nicht einer ihrer Ungeheuerlichkeiten wurde noch Glauben geschenkt, da man uns dumme Schauermärchen erzählt hatte. Glauben Sie mir, mit diesen Erzählungen von mumifizierten Köpfen wird man bald alle Lager und ihre Qualen als Propagandafabeln abtun."
Als man mich dann später, im Herbst 1944, bat, ein Vorwort zu einem Band von Zeugenaussagen über die Judenausrottung in Polen zu schreiben, lehnte ich ab. Ich lehnte ab aus demselben Grunde: Ich glaubte nicht an so viele Verbrechen, an so viele Grausamkeiten, an so viel Schreckenerregendes... diese Männer und Frauen, die abgekocht wurden, um Fett aus ihnen zu gewinnen, die Tonnen von Haaren, die zu Filz verarbeitet wurden, diese Kinder, denen man das Blut abzapfte, um es in Spezialampullen den Hospitälern der Wehrmacht zuzuführen.... Wie war es möglich, daran zu glauben? Wie konnte man daran glauben? Ich konnte es nicht!
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Heute müssen wir es glauben! Gleichzeitig aber versinken wir in einem Universum der Tragik, dessen ganzer Sinn plötzlich unheilvoll verändert ist. Ich weiß nicht, ob sich die Menschen auch nur die geringste Vorstellung von diesem Wandel und seines düsteren, tödlichen Ernstes machen. Ich weiß nicht, ob sie verstehen können, ob sie verstehen wollen, wie wenig ihr Leben, ihr eigenes Leben noch Gewicht hat, da dies alles wahr ist, da dies alles geschehen konnte! Wir haben keinerlei Gewicht mehr! Das Leben aller Menschen, das ihrer Kinder, das Leben jedes einzelnen von uns auf dieser Erde ist nicht mehr als ein schwaches Licht, das man gleichgültig auslöschen kann. Auslöschen wie man Hiroshima ausgelöscht hat! Ich spreche ganz ruhig mit der Ruhe, die manchmal dem Tode vorausgeht. Hiro shima wäre im Jahre 1925 unmöglich, unvorstellbar gewesen, weil die Vernichtung einer ganzen Stadt, ganz gleich, ob feindlich und japanisch, die ganze Welt und zu allererst Amerika , empört hätte. Die Entrüstung wäre so groß gewesen, daß keine Regierung, auch nicht zu ihrer eigenen Rettung, einen solchen Akt gewagt hätte. Im Jahre 1945 ist eine solche Tat natürlich und annehmbar geworden. Wenn man nach dem Warum und dem Woher dieser ungeheuren Erniedrigung des menschlichen Gewissens fragt, so findet man die blutige Quelle in den Bildern dieses Buches. Diese namenlosen Bilder.... sind wir denn so gefallen, daß wir euch ohne Zähneknirschen und Verzweiflungsschrei, ohne Hunger und Schlaf zu verlieren, ohne Schluchzen, ohne Verwirrung, ohne Gewissensbisse anschauen können?