ERINNERUNG EINES FREUNDES

Im Herbst des Jahres 1908 lernte ich Maria Zarebinska , die später Wladislaw Broniewski heiratete, im Redouten- Theater in Wilna kennen. Damals besaß ich noch nicht die langjährige Erfahrung eines Pädagogen und jenen geschulten, differen­zierenden Blick für Menschen, deren Individualität sie für die Schauspielkunst prädestiniert. Außerordentlich lebendig steht mir die ungewöhnlich anziehende Erscheinung dieser Frau vor Augen, ihre anmutige Gestalt und ihr bezaubernder Scharm bleibt allen unvergeßlich, ihrem Kollegen- und Freundes­kreise, in dem sie bis zu ihrem Lebensende immer nur mit dem Namen Marysia genannt wurde. Sehr bald befreundete sie sich mit meiner Frau und mit mir. Etwas unsagbar Edles, Aufrechtes bestimmte ihr ganzes Wesen, ihre innere Be­scheidenheit und Zurückhaltung, ihr Zartgefühl im Umgang mit Menschen, ihr feines Empfinden gegenüber der Umwelt. Mit den Jahren wuchs sie in das Leben und in das Theater­leben hinein, ihr Urteil gewann an Selbstsicherheit, doch bis zuletzt behielt sie ihr feines Lächeln, bewahrte sie ihr tiefes Verständnis und ihr warmherziges Wohlwollen für die Menschen. Dieses zarte Lächeln, Ausdruck der Verinner­lichung und Reife ihrer Persönlichkeit, war der ihr eigene Zauber auf der Bühne. Dieses Lächeln, das spontan ihre feinen Gesichtszüge belebte, ihre zierliche, distinguierte Gestalt in Verbindung mit dem warmen Timber ihrer verhaltenen Stimme und der vornehmen, zurückhaltenden Diktion- in

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